Geschätzt mehr als 11.000 Todesopfer forderte die Belagerung der Stadt Sarajevo durch die Armee der bosnischen Serben, Reste der jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs während des Bosnienkriegs. Fast vier Jahre, von April 1992 bis Februar 1996 dauerte sie an. Ständiger Beschuss, Scharfschützen, Mangel an Heizmaterial und Lebensmitteln und zunehmend unzureichende medizinische Versorgung bedeutete das für die knapp 400.000 Einwohner, unter ihnen der 11jährige Tijan. Dieser lebte mit seinen Eltern, die als promovierende Literaturwissenschaftlerin und Professor für Bibliothekswesen dort absolute Außenseiter waren, in einer Plattenbausiedlung. Von diesen Jahren und ihren Nachwirkungen erzählt Tijan Sila in seinem Buch Radio Sarajevo.
Lange Zeit haben die meisten Bewohner Jugoslawiens die Spannungen und Unruhen nach dem Zerfall der „Sozialistischen Föderativen Republik“ ignoriert oder heruntergespielt. Viele von ihnen sind vom Ausbruch des Krieges und der explodierenden Gewalt nach den Unabhängigkeitserklärungen der Teilrepubliken überrascht. Die meisten, auch die Eltern von Tijan, lehnen eine Ausreise zunächst rigoros ab. Die Kinder müssen sich in der neuen Kriegsrealität zurechtfinden. Der Krieg, die Bedrohung, die Angst, die Gewalt, Hunger und Kälte werden zu alltäglichen Begleitern. Sie haben sich tief in das Gedächtnis eingebrannt.
„Sarajevo kam mir vor wie ein schwarzer Wald, der Tod als ein Jäger, und ich fühlte zum ersten Mal das, was ich erst Jahre später, in Deutschland, in Worte zu fassen schaffte: Ich fühlte, dasszu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.“
Für Tijan ist die Musik, besonders das Programm von Radio Sarajevo und Punkmusik ein Rettungsanker und eine Verbindung zur Welt außerhalb, der Normalität. Einige seiner Freunde beginnen Klebstoff zu schnüffeln. Viele stumpfen ab, verrohen, Zwischenmenschliches gerät ins Hintertreffen, Freundschaften werden auf die Probe gestellt, auch weil plötzlich die ethnische Zugehörigkeit oder die Einstellung der Eltern zum Krieg Bedeutung bekommen. Und doch sind Freundschaften das Wichtigste überhaupt. Lebensfreude und Lachen sind auch Kriegskindern nicht fremd. Aber der Schrecken bleibt und ist auch nach Kriegsende noch präsent. Das macht Silas Erzählung eindrücklich und schonungslos deutlich. Auch wenn die direkte Schilderung von Gewalt eher die Ausnahme bleibt. Ein erschütterndes Pädoyer gegen den Krieg ist das Buch vielleicht gerade deswegen.
„Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber der Krieg hat niemals aufgehört.“
sagt Tijans Freund Sead viele Jahre später, als sich die beiden in Sarajevo wiederbegegnen zu Tijan. Er ist geblieben, während für Tijans Eltern, als Tijan eines Tages angeschossen wird, endlich der Tag gekommen ist, aus Serajevo und Bosnien zu fliehen. Mit Tijan und dessen kleinem Bruder geht es Richtung Deutschland. Hier ist die Familie erst einmal in Sicherheit. Aber für die Eltern klappt die Integration nicht wirklich. Sie scheitern, arbeiten in minderqualifizierten Berufen. Besonders dem Vater macht das zu schaffen. Er wird wiederholt gewalttätig gegenüber seinem Sohn. Beide erkranken psychisch schwer. Aber auch Tijan fällt in der Schule auf, sein „rüder Ton“ wird beklagt, er führt Selbstgespräche, verdrängt Erinnerungen und Gefühle. Psychologische Begleitung, die wahrscheinlich für alle notwendig gewesen wäre, lehnen sie ab.
Auch wenn der Autor anerkennt, wie schwierig und traumatisch es für Eltern sein muss, Kinder heil durch einen Krieg zu bringen, wird es deutlich, dass zumindest seine Eltern, aber diese scheinen durchaus stellvertretend für ihre Generation zu sein, den Kindern keinen wirklichen Schutz bieten zu können. Vielleicht ist die Explosion der Gewalt und die furchtbaren Grausamkeiten, die in diesem Krieg begangen wurden, zumindest zum Teil im Verhältnis der Gesellschaft zur Gewalt begründet gewesen. Gewalt als durchaus vertretbare Möglichkeit zur Konfliktlösung. Gesellschaftliche, schulische und häusliche Gewalt, unter der auch Tijan immer wieder zu leiden hat. Der Vater unbeherrscht, die Mutter kühl und streng, bieten auch nach dem Krieg wenig Halt.
Tija Sila schreibt über all das in Radio Sarajevo in einem sehr heiteren, lakonischen Ton. Bitterer Witz, Sarkasmus – dennoch bleibt das Buch immer sehr menschenfreundlich und dabei völlig unsentimental. Es wird auch nicht groß analysiert, der Erzähler ist schließlich zumindest zu Beginn noch Kind und Sila erzählt durch die Augen dieses Kindes. Das ist ihm sehr gelungen. Für die Leserin wird absolut nachvollziehbar, dass Batterien für das Radio oder eine Dose Pepsi von größerer Bedeutung sind als vieles andere. Die Täter und ihre Hintergründe erhalten hingegen bewusst kaum Raum im Roman. Es sind die Opfer, die Sila interessieren. Und das sind eben besonders Kinder. Und die Frauen.
Die Botschaft, falls man bei diesem völlig undidaktischen Buch von Botschaft sprechen darf, kommt auch ohne direkte Anklage an. Krieg ist immer Schei*e, Verlierer sind immer die „normalen“ Menschen und Solidarität und Freundschaft sind wichtig. So besucht Tijan Jahre nach dem Krieg seine alten Frende in Sarajevo, der eine ist da schon völlig abgestürzt. Tijan hat es irgendwie geschafft. Nicht zuletzt durch das Schreiben.
Beitragsbild: Christian Maréchal, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons
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Tijan Sila – Radio Sarajevo
Hanser Berlin August 2023, Hardcover, 176 Seiten, 22,00 €