Bereits in seinem 2021 erschienenen, autobiografisch inspirierten Roman Eine Formalie in Kiew führte uns der 1986 in Kiew geborene, seit seinem achten Lebensjahr in Deutschland lebende Dmitrij Kapitelman in ein in Leipzig von seinen Eltern betriebenes Geschäft, das russische Spezialitäten verkaufte. Pelmeni, Kwas, Wodka, Kaviar, gezuckerte Kondensmilch, Drei-Schweinchen-Wurst und verschiedene Weißkohlsorten, vor allem aber auch Nostalgie und Heimweh gab es in dem 1995 gegründeten und an den Folgen der Corona-Pandemie gescheiterten „Magasin“. Hier trafen sich Menschen aus der sowjetischen Diaspora, kauften Vertrautes, tauschten sich aus über Alltagsrassismus, Antisemitismus, erstarkende rechte Gewalt, aber auch einfach nur über das Leben in Deutschland, das ihre neue Heimat geworden ist und sich so offensichtlich dagegen sträubt.
Hier regierten die pausenlos rauchende Mutter und der von einem überstandenen Schlaganfall beeinträchtigte Vater mit der Angestellten Ira, eingestellt vor allem, weil sie so unfreundlich zu den Kund:innen war, „auf die gute alte, sowjetische Art“. Man hört es, Russische Spezialitäten ist genauso witzig, ironisch und mit manchmal extrem grotesken Dialogen gefüllt, wie auch die vorhergehenden Romane von Dmitij Kapitelman.
Entzweiung
Und doch ist das Buch anders. Denn mit der ironisch beobachteten Heimeligkeit in der Familie Kapitelman und der russischen Diaspora ist es spätestens seit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine vorbei. Es bilden sich Lager. Und auch in der Familie Kapitelman stehen plötzlich – in Wahrheit, das erkennt der Erzähler, gar nicht so plötzlich, sondern bereits seit den Maidan-Protesten von 2013/14, nur nicht so offensichtlich – Mutter und Sohn auf unterschiedlichen Seiten.
Die in Sibirien geborene und in Moldawien aufgewachsene Mutter Lara, die als junge Frau nach Kiew ging und dort Sohn Dmitrij auf die Welt brachte, ist durch extensiven Konsum von russischem Staatsfernsehen zur fanatischen Anhängerin Putins und erklärter Ukraine-Gegnerin geworden. Wie in einer Parallelwelt erklärt sie die Ukraine zum Naziregime, das Massaker von Butscha zur inszenierten Fake-Meldung, beharrt darauf, dass das russische Militär ausschließlich militärische ukrainische Ziele attackiere, selbst als ihr Sohn in einem Luftschutzkeller sitzt und die Raketen einschlagen hört. Sie glaubt der Propaganda Putins unbedingt. Russland ist das Opfer und besitzt das moralische Recht zur „Verteidigung“.
Das führt zu zahlreichen Auseinandersetzungen mit Sohn Dimitrij, der dem Erfolg solch kontrafaktischer Berichterstattung nicht fassen kann. Der an seiner Mutter, einer sehr liebevollen, klugen Mutter verzweifelt, sie ja aber liebt. So wie er die russische Sprache, seine Muttersprache liebt. Die Mutter bricht mit alten ukrainischen Freunden, diese brechen wiederum mit ihrer Sprache, lernen nun Ukrainisch, weil das Russische für sie verbrannt ist. Dmitrij sieht den Erfolg der Propaganda nicht nur als persönliche familiäre Tragödie, sondern erkennt in der Wahrheitsfälschung und Manipulation ein weltweit erstarkendes Muster, von dem auch wir in Deutschland nicht allzu weit entfernt sind. Von den USA unter Donald Trump ganz zu schweigen.
Der Wahnsinn der Wirklichkeit
Vom Wahnsinn der Wirklichkeit gestattet sich Dmitrij Kapitelman in Russische Spezialitäten hin und wieder bizarre, surreale Ausbrüche. Da beginnen die Fische in der Verkaufstheke des Magasins mit ihm zu reden, verwandeln sich Menschen in Zigaretten oder Maschinengewehre.
In einem zweiten Teil bleibt der Ton zwar immer noch leicht, komisch und liebevoll, wird aber insgesamt ernster. Dmitrij reist in die Ukraine, in die er so oft mit seinen Eltern gefahren ist, um für das „Magasin“ einzukaufen . Ein wenig naiv, besitzt er zwar die deutsche Staatsbürgerschaft, wurde er aber in Kiew geboren. Die Gefahr, nicht wieder ausreisen zu dürfen hätte zumindest theoretisch bestanden. Er besucht die Freunde Andrij und Zoja, fährt nach Butscha, erlebt Luftangriffe und erfährt von der Angst junger Männer vor der Rekrutierung. Die Tragik nimmt nun mit dem Besuch des Kriegsgebietes zu. Der Ton bleibt aber weiterhin leicht. Das Erzählte wird etwas ruhiger, empathischer, weniger sarkastisch zugespitzt und schreiend komisch als im ersten Teil, der in Deutschland spielt.
Russische Spezialitäten ist ein wunderbares Buch darüber, sich weder die Mutter noch die Muttersprache stehlen zu lassen, auch nicht von einem autoritären, menschenverachtenden Regime. Aber auch darüber, wie schwierig dies manchmal ist, wieviel Entfremdung dieser Krieg gebracht hat, wieviel Erschütterung nicht nur in diese Familie, sondern in die Welt. Was von der Lektüre weiterhin bleibt, ist der warme, liebevolle, zweifelnde Ton. Und die große Solidarität mit den Menschen in der Ukraine.
Beitragsbild: Off-shell, CC BY-SA 3.0, via Wikimed
Infos zum Buch:
Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten
Hanser Berlin Februar 2025, Hardcover, 192 Seiten, 23,00 €







