In Erinnerung eines Mädchens erzählt Annie Ernaux von ihren Jugendjahren. Die heute 78 jährige französische Schriftstellerin wurde in Deutschland sehr spät entdeckt. Nach zwei Veröffentlichungen in den Nullerjahren über eine erotische Obsession, rutschte sie eher ein wenig in die Schmuddelecke. Erst 2017 wurde ihr im Original bereits 2008 erschienener autobiografischer Roman „Die Jahre“ auch hierzulande ein Riesenerfolg, zumindest bei der Literaturkritik. Dabei gilt Ernaux in Frankreich seit langem als eine der wichtigsten literarischen Stimmen. Schriftsteller wie Didier Eribon und Édouard Louis zählen sie zu ihren Vorbildern. Wie sie entstammt Annie Ernaux einfachen sozialen Verhältnissen, mit denen sie ein problematisches Verhältnis verbindet, wie sie schreibt sie stets stark autobiografisch, wie sie nimmt sie das Biografische aber nur, um wichtige politische und gesellschaftliche Strukturen in Frankreich zu beschreiben und analysieren. Die strikte Klassengesellschaft in Frankreich ist ihr Thema, die Schwierigkeit des sozialen Aufstiegs, die dramatische soziale Ungleichheit. Und immer wieder die Rolle der Frau.
In „Erinnerung eines Mädchens“ wendet sich Annie Ernaux nun einer Episode aus ihrem Leben zu, die vergleichsweise kurz währte, sie aber nachhaltig beeinflusste. Sie spricht sogar davon, dass ihr ganzes nachfolgendes Leben davon und von der Scham, die sie später darüber empfinden sollte, geprägt wurde. Eine Episode, die bisher verdrängt und in ihrem vielfältigen autobiografischen Werk nicht erwähnt wurde. Etwas, dass sie aber noch zu erzählen sich gezwungen sah, jetzt, da die Lebenszeit sich zunehmend neigt.
1958 war Annie ein 18 jähriges, in einem sehr religiösen Elternhaus im normannischen Yvetot äußerst behütet aufgewachsenes Einzelkind. In ihr hielt sich völlige Unbedarftheit mit unbändiger Lebensgier die Waage. Nach dem „Bac“ meldete sie sich als Betreuerin in einer der beliebten „Colonies des vacances“, den Ferienlagern für Kinder. Dass endlich das „echte“ Leben beginnen möge, ihre von Chansons und Frauenzeitschriften genährten Träume von der großen Liebe und Leidenschaft. So geistert auch Dalida durch die Seiten des schmalen Buchs.
„Mon histoire
C’est l’histoire d’un amour
Ma complainte
C’est la plainte de deux coeurs
Un roman comme tant d’autres“
Es ist aber nun keine „histoire d´un amour“, die sich in der Colonie der Abbaye Saint-Martin de Sées abspielte, schon gar keine, an der zwei Herzen beteiligt waren.
Gleich bei der ersten Abendveranstaltung nähert sich der stattliche Chefbetreuer, ein 22 jähriger Bursche auf maximal überrumpelnde Art der völlig unerfahrenen Annie, schleppt sie auf sein Zimmer, vergewaltigt sie nur nicht, „weil er nicht rein ging“ vaginal, sondern ließ sich oral befriedigen. Annie nimmt das hin, glaubt, dass das wohl so sei, mit der „Liebe“. Denn dass H., in den sie sich sogleich verliebt, sie auch lieben würde, auch nachdem er sich nach dem Vorfall rigoros von ihr abwendet, sie sogar zum Gespött der anderen Betreuer macht, die sie fortan „die kleine Nutte“ nennen, davon ist Annie felsenfest überzeugt, selbst als er kurze Zeit später eine neue Bettgenossin findet. Es kommt tatsächlich später noch zu einem weiteren Missbrauch, einer weiteren Vergewaltigung durch H., auch wenn Annie diese Worte niemals verwendet, sich natürlich auch nicht gewehrt, ja noch nicht einmal „Nein“ gesagt hat. Aber wie soll man das Ausnutzen einer gefühlsmäßig völlig verwirrten, gänzlich unerfahrenen 18 Jährigen sonst nennen?
Annie ist in den Wochen des Ferienlagers nicht unglücklich, ja noch nicht einmal der beißende Spott und die Häme der Anderen quält sie. Sie glaubt an die Liebe H.s, übrigens noch über ein Jahr lang, in dem sie an sich arbeitet, um schöner, intelligenter und begehrenswerter zu werden und im folgenden Sommer in der Colonie erneut auf H. zu treffen und sein Herz endgültig zu erobern. Die Ernüchterung und auch die Scham kommen erst, als ihr als Einziger die erneute Teilnahme am Ferienlager verweigert wird. Da bricht ihr Selbstbetrug in tausend Stücke.
Wie konnte das sein, fragt sich die gealterte Annie Ernaux. Und wie kann es sein, dass diese Tage in Sées ihr ganzes nachfolgendes Leben prägen sollten, nicht nur das folgende Jahr, in dem sie unter massiver Bulimie zu leiden hatte. Und hier hebt Ernaux ihre persönliche Geschichte auf die Ebene, die sie selbst als „kollektive Autobiografie“ bezeichnet.
Wie wurden in den Fünfzigerjahren junge Mädchen erzogen, welche Träume von der „großen Liebe“ wurden ihnen eingepflanzt, welches Bild von Männerrollen und Frauenrollen herrschte? Wie hängt das alles mit ihrer Herkunft aus der Arbeiterklasse (ihre Eltern hatten später einen kleinen Lebensmittelladen) zusammen? Wie schaffte sie, den für sie als durch Intelligenz privilegiertes Arbeiterkind vorgesehenen Weg zur Lehrerin schließlich zu verlassen, und an der Universität ein Philosophiestudium zu beginnen, als Au-Pair für eine Zeit nach London zu gehen? Auszubrechen? Die Scham zu überwinden?
Annie Ernaux schaut mit einigem Erstaunen und einer großen Portion soziobiografischer Neugier auf ihr jugendliches Selbst, das ihr heute so fremd ist, dass sie immer wieder die Ich-Perspektive verlässt und von „ihr“ spricht, von „dem Mädchen“, vom „Mädchen von 1958“.
Mit Hilfe von alten Briefen, die sie aus dem Ferienlager an ein Freundin geschrieben hat, mit Fotos und Tagebuchnotizen versucht Annie Ernaux sich der jungen Annie Duchesne in Erinnerung eines Mädchens zu nähern. Sie weiß, dass sie mit ihrer Entwicklung nicht nur zur reifen Frau, sondern auch zur anerkannten Schriftstellerin und privilegierten Intellektuellen, nur unzureichend nachempfinden kann, was sie im Jahr 1958 wirklich bewegt hat. Sie lässt der Komplexität der damaligen Gefühle Raum, nähert sich tastend, analysierend, den Erinnerungen auch misstrauend. Perspektivwechsel von ihrem schreibenden zum so fernen jugendlichen Ich und Zeitsprünge unternimmt sie zahlreiche. Der Ton ist beherrscht, nüchtern, eher kühl. Und doch ist man am Ende tief erschüttert über diesen Sommer 1958 und darüber, was er mit Annie gemacht hat. Blickt tief in die sozialisation junger Mädchen der damaligen Zeit. Und ist sehr glücklich darüber, dass Annie Duchesne sich daraus befreit hat und zu der großartigen Schriftstellerin geworden ist, die wir mit hoffentlich noch zahlreichen Werken endlich kennenlernen dürfen.
Beitragsbild: Abbaye Saint-Martin, Sées, Orne, Basse-Normandie (CC BY 2.0) via Flickr
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Annie Ernaux
Erinnerung eines Mädchens
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Oktober 2018, Gebunden, 163 Seiten, € 20,00
Liebe Petra, mal wieder Danke für den Tip. Im Moment bin ich noch bei Elizabeth Strout, die ich dank Deines Blogs entdeckt habe und sehr mag. Ich bin gespannt auf Annie Ernaux. liebe Grüsse
Liebe Biggi, wie schön, dass dir Elizabeth Strout gefällt. Sie ist eine meiner liebsten Autorinnen. Ernaux ist ganz anders, viel analytischer, kühler. Bin gespannt, was du zu ihr sagen wirst. LG
Ernaux ist ein ziemlich gutes Beispiel, wie Literatur wirkt, wenn sie zur rechten Zeit kommt. Damals war die Leserschaft hierzulande offenbar noch nicht fähig, den Wert ihres Werkes zu erkennen.
Viele Grüße!
Ich bin gespannt, was noch alles von ihr auf Deutsch erscheint. LG