Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee

Als 2015 Im Frühling sterben erschien, war wahrscheinlich noch gar nicht an eine Fortsetzung gedacht worden, sondern einfach nur dem Bedürfnis genüge getan, die schon mehrfach fiktionalisierte Geschichte des Vaters um dessen traumatische Erlebnisse in den letzten Kriegstagen zu erweitern. Noch im Februar 1945 wurden der 17jährige Melker Walter Urban und der gleichaltrige Fiete von der Waffen-SS zwangsrekrutiert und an die ungarische Front geschickt. Dass Walter dort an der Hinrichtung seines der versuchten Desertion beschuldigten Freundes mitwirken musste, hat ihn nachhaltig zerbrochen. 2018 ergänzte Rothmann seine Erzählung des Kriegsendes um die Geschichte der in der norddeutschen Heimat Zurückgebliebenen. Die Frauen auf dem Hofgut bei Schleswig, die aus dem Osten Geflüchteten, die es dorthin verschlagen hat, stehen in Der Gott jenes Sommers im Mittelpunkt. Nun folgt mit Die Nacht unterm Schnee ein Buch, das die Vorgänger zur Trilogie weitet und seinem Autor Ralf Rothmann vermutlich am schwersten gefallen ist.

In zahlreichen Interviews hat Rothmann nicht verheimlicht, dass sein Verhältnis zur Mutter immer ein schwieriges war. Nun versucht er, auch ihre Geschichte zu erzählen. Als 17jährige floh sie mit ihrer Mutter, der Großmutter und den Brüdern vor der vorrückenden russischen Armee aus Westpreußen und kam auf dem Hofgut, auf dem Walter Rothmann als Melker arbeitete, unter. Wir sind ihr in der Figur der Elisabeth Isbahner in den beiden vorangegangenen Büchern bereits begegnet. Für Die Nacht unterm Schnee wählt Ralf Rothmann eine ebenfalls vertraute Person als Erzählerin: Luisa Norff, das junge, aus dem bombardierten Kiel evakuierte Mädchen, das mit seiner Mutter auf dem Hof Zuflucht findet und die Hauptprotagonistin in Der Gott jenes Sommers ist. Eine Erzählperspektive, die dem Autor ein wenig mehr Distanz zur Geschichte seiner Mutter gewährt.

Elisabeth

Elisabeth Isbahner wird zu einer Art älteren Freundin für Luisa, die sie einerseits für ihre Schönheit, Eleganz, Fröhlichkeit und das Selbstbewusstsein, mit der sie die Gäste im von Luisas Vater in Kiel geführten Militärkasino, wo sie als Kellnerin arbeitet, bedient, bewundert. Die aber andererseits die Frivolität, den zügellosen Vergnügungswillen und die Rücksichtslosigkeit gegenüber ihrem Verlobten und schließlich Ehemann Walter verurteilt und hinter der stets gut gelaunten Fassade Elisabeth eine tiefe Düsternis und einen Abgrund ahnt. Oder vielleicht auch nur im Rückblick zu ahnen glaubt. Denn Luisa schreibt den Text, den wir lesen, als ältere, pensionierte Bibliothekarin im Jahr 2000. Sie hat gerade vom Tod Elisabeths gehört und erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit.

„Ich wusste nicht viel über Elisabeths bisheriges Leben, und doch hatte ich manchmal das Gefühl, dass sie eine Leerstelle mit sich herumtrug, ein tiefinneres Vakuum.“

Das Hofgut, auf das Walter seine Frau nach dem Krieg mitnimmt, auf dem sie als Melkerehepaar ein karges Ein- und Unterkommen finden, ist Elisabeth nicht genug. Sie sehnt sich nach der Stadt, nach schönen Kleidern, Tanzen, Vergnügungen. Walter ist dafür nicht der richtige Mann, lässt sie aber gewähren. Auch bei ihren vielen Affären. Was die Beiden zusammenhielt, kann Luisa und mit ihr die Leserin höchstens erahnen. Beide sind zutiefst verwundete Menschen, traumatisiert vom Krieg, die verzweifelt die Schatten der Vergangenheit zu verdrängen suchen.

Sylvesterfeier by Hans-Michael Tappen (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr

Die aber den einzigen Weg, diese vielleicht zu verarbeiten, nämlich darüber zu sprechen, niemals auch nur erwägen. Während sich Walter in sein Schicksal fügt, ein Muster an Selbstaufgabe und Pflichterfüllung zu sein scheint, versucht Elisabeth ihre emotionale Verzweiflung mit Vergnügungen, Alkohol, ständig neuen Männern zu betäuben. Das ändert sich auch nicht, als die Kinder Wolf (deutlich das Alter Ego von Ralf Rothmann) und Sonja zur Welt kommen.

„Wahrscheinlich sind Menschen, die einmal im Krieg waren, lebenslang im Krieg, und die einmal fliehen mussten, sind für immer wurzellos.“

Walters Schweigen

Welches Drama hinter Walters Schweigen steckt, haben wir in Im Frühling sterben lesen können. Das was hinter Elisabeths Vergnügungssucht an Verdrängtem lauert, versucht Ralf Rothmann in einem parallel geführten Handlungsstrang von Die Nacht unterm Schnee zu fassen. Von Luisa einmal nach ihren Erlebnissen auf der Flucht gefragt, erwidert Elisabeth nur sehr einsilbig. „In Pommern hat mich mal einer geschnappt.“ Mehr weiß auch der Autor nicht von den Erlebnissen seiner Mutter.

In kurzen, eingeschobenen, ergreifenden Abschnitten lässt er aber seiner Vorstellungskraft freien Lauf. Hier wird ein junges Mädchen – dass sie Elisabeth sein könnte liegt nah, wird aber nirgendwo explizit behauptet – Opfer einer tagelangen Massenvergewaltigung durch russische Soldaten. Das wird gleichzeitig so brutal wie dezent erzählt, wie ich es noch nie gelesen habe. Das ist ungemein intensiv und dringlich und lässt vermutlich keine Leser:in unberührt. In einer Art Schneehöhle wird sie nach ihrer geglückten Flucht von einem desertierten russischen Sanitätsoffizier wieder gesund gepflegt. Dass ein solches Erlebnis bleibende Narben hinterlässt, liegt auf der Hand.

Elisabeth sucht ihre Betäubung in Tanzveranstaltungen, sexuellen Abenteuern, im Alkohol. Die Kraft, sich aus ihrer kleinbürgerlichen Tristesse oder ihrer lieblosen Ehe zu befreien, hat sie nicht. Auch nicht, als die Familie vom provinziellen Gutshof ins Ruhrgebiet umzieht, wo Walter eine Anstellung als Bergmann findet. Die Traumata und Gewalterfahrungen führen dazu, dass sie selbst ihren Kindern gegenüber gewaltbereit und kaltherzig bleibt. Ein Selbstmordversuch scheitert. Dien Trost, den Erzählerin Luisa, während des Kriegs auch Opfer sexueller Gewalt, in der Literatur fand und findet, bleibt Elisabeth verwehrt. Von diesen gescheiterten Leben, von dieser transgenerationalen Leidvererbung zu lesen, ist erschütternd und intensiv.

„Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen.“

Elegante Prosa

Ralf Rothmann schreibt auch in Die Nacht unterm Schnee eine elegante, eher schlichte Prosa, die aber auch sinnlich und bildgewaltig werden kann, beispielsweise in Naturbeschreibungen. Er lässt seinen Figuren, selbst den brutalen Vergewaltigern, Ambivalenzen und schafft in den drei Büchern seiner Trilogie verschiedene Blickwinkel und auch sich widersprechende Perspektiven auf eine Zeit, die so weit weg erschien und aktuell wieder eine so bedrückende Präsenz erhält. Die Nacht unterm Schnee ist keine nachgetragene Liebe wie für den Vater in Im Frühling sterben. Aber eine Annäherung an die schwierige Mutter, die, wie Rothmann im Interview berichtete, zu der Erkenntnis führte: „Mensch, du warst doch eine tolle Frau“.

 

Weitere Beiträge zum Buch bei Zeichen und Zeiten und Alexander Carmele, Kommunikatives Lesen

Beitragsbild: Bundesarchiv, Bild 183-W0402-500 / Dissmann / CC-BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee
Suhrkamp, Leinen, 304 Seiten, € 24,00

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