Lektüre August 2024

Der August hat sich alle Mühe gegeben, das Fehlen eines richtigen Sommers in seinen beiden Vormonaten auszugleichen. Schöne Tage zuhauf und Temperaturen wie sie zu dieser Jahreszeit sein sollten. Ich weiß, da gibt es Uneinigkeit, für viele von euch war es vielleicht schon wieder zu heiß und zu trocken (für meinen Garten unbedingt), aber mich hat dieser Monat ein wenig mit dem Sommer 2024 versöhnt. Thema war dann auch: draußen lesen. Und die Lektüre im August war tatsächlich auch so gut wie schon länger nicht mehr in 2024. Monatshighlight war gewiss der wirklich sehr beklemmende, düstere Roman des Iren Paul Lynch, mit dem er 2023 dem Booker Prize gewann, Das Lied des Propheten. Selten hat mich ein Buch so durchgerüttelt. Trotzdem: große Klasse! Aber auch sonst waren noch sehr viele sehr gute Romane dabei. Seht selbst:

 

paul-lynch-das-lied-des-prophetenPaul Lynch – Das Lied des Propheten

Paul Lynchs 2023 mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman ist ein ungeheuer intensives Buch. Ausgangspunkt ist ein von einer totalitären, faschistischen Partei regiertes Irland. Allein dies ist heutzutage ein mehr als beunruhigendes Szenario. Deswegen verschieben einige Kritiker:innen das Buch ins Genre Dystopie. Aber das was Lynch so beklemmend beschreibt – schrittweise Aushebelung aller demokratischen Instanzen, Verfolgung von Andersdenkenden, Bürgerkrieg und willkürliche Gewalt – ist leider in vielen Ländern, auch in unserer Nähe,  grausame Realität. Eilish Stack versucht, nach dem Verschwinden ihres Mannes, der stellvertretender Gewerkschaftsführer und damit der Regierung ein Dorn im Auge war, ihre vier Kinder durch den Alltag zu bringen. Nicht leicht, denn wie meist bei solchen Regimes bricht die Wirtschaft zusammen, es wird zunehmend schwieriger, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dazu kommt das sich verschärfende Kriegsgeschehen, als Rebellen sich der Regierung entgegenstellen. Eilishs ältester Sohn Mark schließt sich dieser Rebellenarmee an. Meisterhaft, wie Paul Lynch die Schlinge immer enger zieht und den Atem der Lesenden immer wieder stocken lässt. Genauso entwickeln sich nahezu alle faschistischen Systeme, seien es damals die Nationalsozialisten, sei es Putins Russland heute und so kann es kommen, wenn die Zivilgesellschaft sich nicht früh und entschlossen genug den extremistischen Tendenzen der Gegenwart entgegenstellt. Ein hochaktuelles, wichtiges, aufwühlendes und sehr, sehr gutes Buch. Unbedingt lesen!

 

elif-shafak-am-himmel-die-fluesseElif Shafak – Am Himmel die Flüsse

Elif Shafak, die in der Türkei zu den am meisten gelesenen Schriftsteller:innen gehört, wegen ihrer regierungskritischen Haltung aber schon lange nicht mehr wagt in ihr Heimatland zu reisen und schon sehr lange in London lebt, ist eine absolute Bestsellerautorin, übersetzt in über 50 Sprachen, die in ihren Romanen stets die Stimme für Minderheiten erhebt, Tabus anspricht, wie Femizide oder den Völkermord an den Armeniern. Wer sie einmal im Gespräch erlebt hat, muss sie wegen ihrer Klugheit, Warmherzigkeit und ihres Engagement einfach bewundern. So geht es mir auch. Und einige ihrer älteren Romane, z.B. Der Geruch des Paradieses , Unerhörte Stimmen oder Ehre, sind ziemlich großartig. Es gibt aber immer wieder auch Bücher, die bei mir einen durchwachsenen Eindruck hinterlassen. So auch ihr jüngster.

Auf drei Ebenen plus Prolog widmet sie sich einer Fülle von Themen, jedes davon wichtig, interessant und eindrücklich behandelt. Es beginnt in biblischen Zeiten bei Assurbanipal, der in Ninive die erste Bibliothek in Mesopotamien aufbaute. 1840 steigt Arthur Smith aus größter Armut zu einem anerkannten Archäologen auf, der verlorene Tafeln des Gilgamesch-Epos in eben jenem Ninive sucht, findet und dort schließlich an Cholera stirbt. 2014 begleiten wir eine jesidische Familie aus der Türkei auf eine Reise in den Irak, die dort Opfer des Völkermordes des IS an den Jesiden wird. 2018 begegnen wir der Umweltwissenschaftlerin Zaleekhah, die über das Gedächtnis von Wasser forscht. Das passt zu dem die verschiedenen Ebenen – neben den Überschneidungen in Orten und Themen – verbindenden Wassertropfen, der sich laut Autorin stets erneuert, nie verschwindet.

Archäologie, kulturelles Erbe und Raubkunst, Kolonialismus, Rassismus und Islamismus, Verfolgung der Jesiden, Umweltschutz und kulturelle Auslöschung – spannende Themen, die Elif Shafak interessant und gekonnt verwebt und präsentiert. Dennoch kann mich das Buch nicht vollkommen überzeugen. Es ist überkonstruiert, der stetig als eine Art Conferencier wieder auftauchende Wassertropfen, wenig ambivalente Figuren und der leider immer wieder ins Triviale, Süßliche kippendes Stil stehen für mich auf der Negativseite. Wer sich daran nicht stört, erhält einen gut lesbaren Roman. Die anderen warten wie ich gespannt auf das nächste Buch von Elif Shafak.

 

verena-boos-die-taucherinVerena Boos – Die Taucherin

Nach ihrem Debütroman Blutorangen kehrt Verena Boos in ihrem nun dritten Buch wieder zurück nach Spanien, nach Valencia und in die dunkle spanische Vergangenheit der Franco-Diktatur. In ihrem Erstling ging es um die vom Regime ermordeten bis zu 200.000 Menschen, die als Gegner verfolgt und ermordet und oft anonym verscharrt wurden. Bis heute bemühen sich Angehörige und Aktivisten um eine Aufarbeitung der Geschehnisse. Der Staat mauert. In der Geschichte Die Taucherin geht es um eine plötzlich verschwundene Kindheitsfreundin und die Suche nach ihr. Dabei kehrt Verena Boos in diese dunkle Zeit und deren weit über sie hinausweisende Schatten zurück und klagt ein scheußliches Netzwerk von Politik, Kirche und Behörden an. Noch überzeugender als Blutorangen, das mir auch schon sehr gut gefallen hat, arbeitet Verena Boos hier ein Kapitel spanischer Geschichte spannend und literarisch auf.

 

Scott Alexander Howard - Das andere TalScott Alexander Howard – Das andere Tal

Die Grundsituation im Roman des Kanadiers Howard ist einigermaßen knifflig. Drei Täler liegen getrennt durch hohe Berge und weite Steppen nebeneinander. Die Bevölkerung ist in jedem identisch, es liegen lediglich je zwanzig Jahre Zeitunterschied zwischen ihnen. Grenzübertritte sind strengstens verboten und werden von hohen Zäunen, schwerbewaffneten, schießbereiten Grenzern und drakonischen Strafen verhindert. Vor allem Übertritte nach Westen, also in die Vergangenheit sind absolut untersagt, könnten „Rückkehrer“ doch die komplette Geschichte durch ihr Eingreifen ändern. Nur sehr selten genehmigt das „Conseil“ einen Antrag auf einen Besuch in einem anderen Tal, beispielsweise um das nach dem eigenen Tod geborene Enkelkind einmal zu erleben oder das gestorbene Kind noch einmal zu sehen. Stets streng bewacht und im Verborgenen.

Einen dieser heimlichen Besuche entdeckt die Ich-Erzählerin Odile eines Tages durch Zufall. Die alten Eltern ihres Freundes Edme werden von ihren Bewachern in Odiles Tal geführt. Da solche Besuche nur in einen nahen Todesfall genehmigt werden, ist für sie klar, dass Edme, dem begabten Geiger und ihre heimliche Liebe, etwas zustoßen wird. Ihn darüber zu informieren, ihn zu warnen und damit in den Lauf der Geschehnisse einzugreifen, ist streng verboten und wird hart bestraft. Die gute Schülerin Odile, die als eine der wenigen für eine Laufbahn im Conseil vorgesehen ist, ist hin und her gerissen, was sie tun soll. Die Folgen ihres Handelns werden nicht nur sie, sondern auch Edme, seinen Freund Alain und die jungen Menschen um sie herum für immer prägen.

Das Gedankenexperiment ist interessant. Kann man Dinge, Ereignisse, Fehler ungeschehen machen? Will man überhaupt wissen, was die Zukunft bringt? Nur stellenweise weiß Scott Alexander Howard allerdings, die Leserin tatsächlich mitzunehmen. Oft ist das Erzählen ein wenig schwerfällig, die Konstruktion ein bisschen schwach, die Protagonistin zudem nicht sehr sympathisch. Dennoch würde ich eine Leseempfehlung aussprechen, da die Idee des Buchs wirklich interessant ist und die geschilderte, durchweg misogyne Lebensrealität in den Tälern jede Menge Anknüpfungs-und Diskussionspunkte bietet.

 

jessica-lind-kleine-monsterJessica Lind – Kleine Monster

Das Thema Mutterschaft stand schon im Debütroman im Mittelpunkt – eine einsame Waldhütte war damals Schauplatz, um die Träume und Ängste, Überforderungen und die Selbstentfremdung einer Mutter in ein leicht surreales, märchenhaftes Setting zu verlegen und viele unterschiedliche Herangehensweisen und Interpretationen des Textes zuzulassen. Nach Mama hat Jessica Lind nun erneut eine Mutter zur Hauptfigur ihres neuen Romans Kleine Monster gemacht und verbreitet wieder eine leicht unheimliche Atmosphäre. Welche Eltern haben nicht hin und wieder angesichts ihrer Nachkommenschaft gedacht: „Diese kleinen Monster!“ Aber wann kippt diese zeitweilige Überforderung angesichts der Eigenwilligkeit der Kinder in eine tiefempfundene Fremdheit? Wann ist der Punkt erreicht, dass Eltern ihre eigenen Kinder nicht mehr verstehen können oder wollen, sie ihnen unheimlich werden und das Vertrauen abhandenkommt?

Bei Pia geschieht dies, nachdem es bei ihrem siebenjährigen Sohn in der Schule einen „Vorfall“ mit einer Mitschülerin gegeben haben soll. Luca schweigt dazu eisern, Vater Jakob wiegelt ab und die Schule versucht auch, die Situation nicht aufzubauschen. Nur Pia reagiert panisch. Nach und nach wird immer mehr von Pias Kindheit und schließlich ein schweres Trauma aufgedeckt. Die missglückte Trauerbewältigung in der Familie hat bei Pia zu starken Verlustängsten und Misstrauen geführt. Jessica Lind weiß durch diese unzuverlässige Erzählerin eine bedrohliche Atmosphäre aufzubauen und fesselt ihre Leser.innen bis zum Schluss. Man beginnt selbst Pia zu misstrauen, ihre Erzählung zu hinterfragen. Der rasanten Entwicklung steht eine sehr klare, ruhige Sprache gegenüber, die die Geschichte in Richtung Psychothriller lenkt. Ein wirklich überzeugender Zweitling, der mich schon auf das dritte Buch der Autorin freuen lässt.

 

Natasha Korsakova - Di BernardoNatasha Korsakova – Di Bernardo

2018 veröffentlichte Natasha Korsakova ihren ersten Kriminalroman. Tödliche Sonate hieß dieser und führte tief in die Musikwelt, genauer gesagt in die Welt der Violinen. Das Besondere ist: Natasha Korsakova ist selbst eine großartige und renommierte Violonistin. Sie versteht also nicht nur etwas davon, wovon sie schreibt, sondern sie hegt auch eine wirkliche Leidenschaft für ihr Sujet. Das war beim zweiten Fall für ihren sympathischen Kommissar Di Bernardo aus Rom (Römisches Finale) genauso und findet sich auch in ihrem jüngsten Steich, der einfach den Namen ihres Ermittlers trägt. Dieser muss sich dieses Mal mit einem Doppelmord vor der Basilica di San Giovanni in Laterano befassen. Der römische Komponist Alessandro Ferro liegt dort tot in einer Blutlache, eine Pistole in der Hand. Etwas entfernt liegt die Leiche einer jungen, aus Rumänien stammenden Frau.  Alessandros (Ex)-Freundin, die Violonistin Elisa kniet blutüberströmt neben ihm. In welcher Verbindung standen die beiden Toten? Kannten sie sich überhaupt? War Eifersucht im Spiel – von Elisa, von Alessandros Ex-Frau oder einer der vielen Geliebten? Und welche Rolle spielt der Bogenbauer, der stark gefährdete Tropenhölzer wie Fernambuk verwendet, mit dem mittlerweile eine Holzmafia handelt, da das langsam wachsende Holz so selten geworden ist und mittlerweile unter Artenschutz gestellte wurde.

Ein sympathisches Ermittlerteam, viel Musik (mit QR-Codes), römisches Ambiente und viel Wissenswertes zum Thema Musik machen den gut geschriebenen Roman mit der richtigen Portion Spannung und einigen falschen Fährten zu einer rundum gelungenen Krimiunterhaltung.

 

zora-del-buono-seinetwegeZora del Buono – Seinetwegen

Seinetwegen von der Architektin, Kulturredakteurin und Autorin Zora del Buono ist das Buch einer Recherche, einer Spurensuche nach dem im August 1963 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Vater Manfredi del Buono. Der aus Süditalien stammende Manfredi (del Buono hat in ihrem letzten Buch Die Marschallin über dessen slowenische Mutter geschrieben), ein 33jähriger Röntgen-Oberarzt am Kantonsspital Zürich war mit seinem Schwager in dessen VW-Käfer unterwegs, als in einer unübersichtlichen Rechtskurve ein überholender Chevrolet frontal in sie hineinkrachte. Schwager und Unfallverursacher überlebten leichtverletzt, Zora del Buonos Vater erlitt einen Genickbruch und starb. Es ist eine leise, zarte Spurensuche, die Zora del Buono da präsentiert. Persönliche und gesellschaftliche Umstände werden wie in einer Collage zusammengeführt. Das ist anrührend, schön und sehr menschlich. Und steht seit letzter Woche auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2024.

 

Javier Zamora - SolitoJavier Zamora – Solito

Es ist eine erschütternde Geschichte, die leider so oder ähnlich tagtäglich irgendwo auf der Welt passiert – das UNHCR spricht aktuell von fast 120 Millionen Vertriebenen weltweit, 47 Millionen davon sind Kinder, viele davon sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Javier Zamora war neun, als seine Eltern, die Jahre zuvor vor den Todesschwadronen des Bürgerkrieges in El Salvador in die USA geflohen sind, endlich genug Geld zusammen hatten, um ihren Sohn illegal nach Kalifornien nachkommen zu lassen. Javier, der bis dahin bei seinen Großeltern gelebt hat, ist voller Sehnsucht nach seinen Eltern und voller Vorfreude auf „LaUSA“. Trotzdem mit einem etwas mulmigen Gefühl lässt er sich von seinem Großvater auf langen Busfahrten durch Guatemala hindurch bis an die mexikanische Grenze begleiten. Hier ist für den alten Mann Schluss, besitzen beide doch kein Visum für Mexiko. Nun beginnt eine zehnwöchige Odyssee. Auf ihr nennt sich der kleine Javier Zamora heimlich „Solito“, der Einsame. Auch wenn ihm von einigen Mit-Flüchtenden, seiner neuen Familie auf Zeit, unglaubliche Solidarität und Unterstützung zuteil wird. Endlose Wüste, Hitze, Kälte, Durst, Dornengestrüpp und Kakteen, mörderische Wegstrecken, die zu Fuß bewältigt werden müssen, Helikopter, die die Flüchtenden jagen, die Migrationspolizei und ihre Hunde – so mancher der von mehr oder weniger zuverlässigen Schleusern, den „Kojoten“, Geführten verschwindet, wird zurückgelassen, dem fast sicheren Tod ausgesetzt. Es ist erschütternd zu lesen, was die Menschen durchmachen müssen. Und mittendrin der kleine neunjährige Javier.
Javier Zamoras Geschichte ist aufrüttelnd und gerade heute – seit 2012 steigt die Zahl der Vertriebenen jährlich – so aktuell und wichtig wie nie zuvor.
Literarisch ist das Buch leider weniger gelungen. Zamora erzählt zu detailreich, minutiös, oft redundant – was vielleicht der endlosen Odyssee, von der erzählt wird entspricht, das Lesen der 496 Seiten oft aber auch mühsam macht. Die extrem häufig eingestreuten Spanisch-Brocken oder –sätze hatten für mich keinerlei Notwendigkeit oder Mehrwert und trugen zusätzlich dazu bei.

 

 

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