Noch selten habe ich ein Buch so körperlich gelesen wie Das Lied des Propheten von Paul Lynch. Beklemmend, intensiv, atemberaubend – Adjektive, die nicht nur so dahingesagt bzw. –geschrieben sind, sondern die während des Lesens absolut zutrafen und so manches Mal zum (kurzen) Unterbrechen der Lektüre zwangen. 2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, heimst der Roman auch hierzulande höchstes Lob ein, etwa bei Markus Gasser in der Neuen Züricher Zeitung, der schreibt:
„So zieht uns «Das Lied des Propheten» existenziell in Mitleidenschaft wie kaum ein Werk dieser Zeit: Es hat nur einmal in einem Jahrhundert einen Franz Kafka gegeben; und in diesem gibt es nur einen Paul Lynch.“
Wow. Häufig wird bei der Rezension dieses Buchs von einer „Dystopie“ gesprochen, eine Bezeichnung, der ich nur bedingt zustimme. Und das nicht nur, weil mich Dystopien im Allgemeinen ziemlich kalt lassen. Paul Lynch schreibt von beängstigenden Entwicklungen und Zuständen, von denen man sich durch die Bezeichnung „Dystopie“ allzu bequem distanzieren kann. Gruseln auf Abstand sozusagen. Dabei ist das Geschilderte gar nicht so weit fort, findet man die beunruhigenden Abläufe zu Beginn in Ländern wie Russland, wird man erschreckend oft an den furchtbaren Krieg in der Ukraine erinnert, ist das Drama der übers Mittelmeer Flüchtenden doch jedem bekannt. Und wenn man mal ein wenig von der komfortablen eurozentrischen Sicht abrückt, sind die geschilderten Grausamkeiten für Millionen Menschen Alltag.
Eine faschistische Partei regiert in Irland
Paul Lynchs gelungener Kniff ist, dass er Das Lied des Propheten in seinem Heimatland Irland spielen lässt. Und plötzlich ist die Handlung (für uns) so viel näher und furchterregender. So nah, dass man sie als „Dystopie“ bezeichnen muss.
Worum geht es? In Irland ist eine offensichtlich faschistische Partei an die Macht gekommen. Welche konkrete Ideologie hinter ihr steht und wie es so weit hat kommen können, dass lässt Lynch bewusst offen. Denn alle faschistischen Regime gleichen sich doch in Wesentlichem. Die Abläufe nach der Machtübernahme sind auch stets die gleichen: die Medien werden gleich- oder ganz abgeschaltet, Zensur eingeführt, Propaganda übernimmt, Notverordnungen werden erlassen, Executive und Judikative übernommen und die Bürgerrechte weitgehend abgeschafft. Regt sich massiverer Widerstand, wird die in der Öffentlichkeit kommunizierte Krise dazu benutzt, Gegner mundtot zu machen, auszuschalten und unter Umständen auch das Kriegsrecht zu verhängen. Die Welt protestiert, die EU zeigt sich alarmiert. Aber es passiert zunächst einmal nichts.
„(…)wenn du den Besitz der Institutionen ändern kannst, dann kannst du auch den Besitz der Tatsachen ändern, du kannst die Struktur des Glaubens ändern, das worin man einig ist(…)wenn du sagst, eine Sache ist eine andere, und du sagst es oft genug, dann ist es auch so, und wenn du es immer und immer wieder sagst, dann akzeptieren dir Leute es als wahr.“
Protagonistin in diesem durch die weltpolitischen Entwicklungen gar nicht mehr so dystopisch erscheinenden Szenario mitten in Europa ist Eilish Stack, Biotechnikerin, Mutter von vier Kindern und Ehefrau von Larry. Larry ist Vize-Generalsekretär der irischen Lehrergewerkschaft und schon alleine dadurch missliebig. Als die Lehrer eine große Demonstration gegen die National Alliance organisieren wollen, gelangt Larry ins Fadenkreuz der Geheimpolizei. Die erste „Vernehmung“ verläuft noch glimpflich, von der zweiten kehrt er nicht mehr zurück. Eilishs Nachforschungen verlaufen im Sande.
Von einem Moment auf den anderen ist Eilish auf sich alleine gestellt, muss für den 16-jähigen Mark, die 14-jährige Molly, den 12-jährigen Bailey und das Baby Ben sorgen, sich um ihren zunehmend demenzkranken Vater kümmern, den Laden am Laufen halten. Verdrängung und Pragmatismus helfen ihr dabei zunächst. Die alltäglichen Sorgen – die „Krise“ führt zu Versorgungsengpässen, Eilish verliert ihren Job, wegen Larrys Verhaftung ist die Familie Anfeindungen ausgesetzt, das Auto wird von Vandalen zerstört und der Vater kann sich immer weniger allein versorgen – halten sie am Funktionieren. Aber immer wieder verfällt sie verständlicherweise in Panik. Besonders als sich Mark der formierenden Rebellenarmee anschließt.
Ausweg Flucht?
Eilishs Schwester Áine lebt in Kanada und drängt ihre Schwester zur Ausreise. Aber Eilish kann sich nicht dazu entschließen. So schlimm wird es schon nicht werden. Irland ist ein EU-Land, das Vertrauen in eine irgendwie geartete Ordnung ist noch zu groß. Und außerdem muss sie bleiben, für Larry, für Mark. Diese Gedanken, die nicht nur Eilish umtreiben, kommen der Leserin aus der Historie bekannt vor. Und wie hätte man sich selbst entschieden?
„(…)die kriegen uns nicht weg, falls nötig, leben wir unter der Erde, ich grab ein Loch in meinen Scheißgarten, wenn man sein ganzes Leben an einem Ort gelebt hat, ist die Vorstellung, woanders zu leben, unmöglich(…)“
Denn natürlich kommt es doch so schlimm. Rebellen gegen Regierungsarmee, Bombardierungen, willkürliche Frontlinien, Checkpoints, Heckenschützen und Terror, dazu versagende Gesundheitsdienst und zusammenbrechende Versorgung – uns erscheint das für Irland befremdlich. Aber in wie vielen Ländern ist das bitterer Alltag? Die Schlinge zieht sich zu. Und das mit zunehmender Geschwindigkeit.
Paul Lynch schreibt Das Lied des Propheten in durchgehendem Präsens. Das, das Tempo und die Dichte der Sprache machen den Roman atemlos, intensiv und beklemmend. Lange Sätze, ein an den Landsmann James Joyce erinnernder Bewusstseinsstrom, ein gnadenloser Rhythmus – das Lesen wird, wie gesagt, zu einem auch körperlichen Erlebnis. Es ist eben keine Dystopie, der man mit mehr oder weniger Abstand folgt, sondern ein absolut glaubhaftes, beängstigendes Szenario. Manchmal musste ich mich der klaustrophobischen Atmosphäre durch Weglegen des Buchs zumindest zeitweise entziehen. Es ist eine existentielle Ausweglosigkeit, die an der Leserin zieht. Aber der Sog, den der Roman aufbaut, ist groß und man muss weiterlesen.
So ist Das Lied des Propheten wahrlich keine Wohlfühllektüre. Ob man dem Ende ein wenig Hoffnung entnimmt, bleibt dem Lesenden überlassen.
„(…)der Prophet singt nicht vom Ende der Welt, sondern davon, was getan worden ist und was getan werden wird und was manchen angetan wird, aber nicht anderen (…), dass das Ende der Welt immer ein lokales Ereignis ist, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses und wird für andere nur eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen(…)“
Es ist die dichteste, kunstvollste, packendste und hochaktuelle Warnung an eine Zeit, die noch ein Davor ist. Angesichts einer Politik, die meint, das Land wieder „kriegstauglich“ machen zu müssen, die fast nonchalant die Stationierung von Raketensystemen beschließt und mal wieder aus der Geschichte kaum etwas gelernt zu haben scheint, sollte dieser Roman mit seiner „radikalen Empathie“ Pflichtlektüre sein. Dass er in seiner hervorragenden Übersetzung durch Eike Schönfeld auch literarisch ein Meisterwerk ist, ist ein Glücksfall.
Beitragsbild Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft by abbilder CC BY 2.0 via Flickr
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Paul Lynch – Das Lied des Propheten
Aus dem Englischen von: Eike Schönfeld
Klett-Cotta Juli 2024, 320 Seiten, gebunden, € 26,00