Lektüre Oktober 2024

Der Oktober 2024 geht wahrscheinlich in meine Lesegeschichte ein als der „schlechteste“ Lektüre- Monat seit Jahren. Ich habe wirklich ziemlich wenig gelesen.

Das lag natürlich zum einen an der Buchmessen-Woche, die so voll mit Terminen, Begegnungen, Partys und ja, auch Büchern ist, dass man nahezu unmöglich auch noch zum Lesen kommt. Daneben stand bei uns aber auch der Auszug eines der Kinder, eine dreitägige Tagung, bei der ich eine der Referentinnen sein durfte und der runde Geburtstag meines Mannes an. Dass wir direkt nach der Messe ins Elsass gefahren sind, hat die Lesesituation nicht gerade verbessert.

Neben den unten vorgestellten Büchern habe ich noch eine Neuerscheinung aus dem kommenden Frühjahrsprogramm des Schöffling-Verlags lesen dürfen. Eine tolle Geschichte, die ich hier natürlich noch nicht verraten darf.

der-morgen-gehoert-uns-davide-coppoDavide Coppo – Der Morgen gehört uns

Davide Coppo lässt einen jungen Mann zurückschauen – vom Jahr 2006 zurück auf ein Ereignis 2004, das ihm einen langen Hausarrest einbrachte, aber auch weiter zurück bis ins Jahr 2000, als er sein letztes Jahr auf der Mittelschule in der Nähe von Mailand verbrachte – Der Morgen gehört uns ist ein Roman über eine politische und persönliche Radikalisierung. Ettore, der Ich-Erzähler, der am Ende knapp 18 ist und über seine Zukunft nachdenkt – nicht wirklich reumütig, aber bedauernd – erinnert sich an die in den zurückliegenden Jahren geschehenen Dinge, als er sich der „Federazione“ anschloss, die Jugendorganisation einer nicht näher benannten rechten Partei. Zunehmend fasziniert ihn auch die bloße Gewalt und der Hass.

Die Erklärmuster von Davide Coppo waren mir ein wenig zu vordergründig, zu naheliegend, auch ein wenig zu larmoyant – kalte Mutter, zu wenig Aufmerksamkeit, Suche nach Zugehörigkeit. Eine Leseempfehlung gibt es trotzdem, denn das Buch regt zumindest dazu an, sich eigene Gedanken zum Thema zu machen. Und das geht auch durch Widerspruch.

 

Titti Marrone - Besser nichts wissenTitti Marrone – Besser nichts wissen

Auf der Messe hatte ich die Gelegenheit, mit der italienischen Journalistin und Autorin Titti Marrone über ihr im Original bereits 2003 erschienenes Buch „Meglio non sapere“ zu sprechen, das im letzten Jahr auch auf Deutsch im S. Marix Verlag erschienen ist. Bei einer Einladung ins Verlagshaus Römerweg in Wiesbaden lernte ich ihre Übersetzerin Klaudia Ruschkowski kennen, die mir dieses Gespräch ermöglichte. Ich werde darüber in einem eigenen Beitrag berichten und dann auch ausführlicher auf diese unglaubliche, bewegende Geschichte eingehen.

Sie erzählt von zwei kleinen italienischen Schwestern und ihrem Cousin, die 1944 mit ihren Müttern nach Auschwitz deportiert wurden. Während die Mütter und die beiden Mädchen mit viel Glück überleben, wird der kleine Sergio für Versuche mit Tuberkelbakterien im Lager Neuengamme bei Hamburg gequält und kurz vor Kriegsende ermordet. Sein Schicksal und das der anderen 19 „Kinder vom Bullenhuser Damm“ ist viel zu unbekannt und verschlägt der Leserin die Sprache. Die Recherchen eines deutschen Zivilisen, Günther Schwarberg, brachte Licht in dieses nur zu gerne vertuschte Gräuel und Titti Marrone den Anlass für ihr Buch. Ganz bald mehr davon.

 

paul-harding-sein-garten-edenPaul Harding – Sein Garten Eden

Sein Garten Eden stand auf der Shortlist des Booker Prize. Die Geschichte einer multiethnischen Gemeinschaft, die auf einer kleinen Insel vor der Küste Maines seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zusammenlebt, bevor sie von den Behörden 1911 von dort vertrieben wird, ist von den wahren Begebenheiten auf Malaga Island inspiriert.

Paul Harding lässt Sein Garten Eden auf Apple Island spielen. Der Name stammt von den verschiedenen Apfelsamen, die der erste Bewohner der Insel, der freigelassene Sklave Benjamin Honey dort 1793 – wie sich herausstellt mit anfangs sehr wenig Erfolg – aussäte. Der abgelegene Ort bot für ihn und seine irische Frau Patience die Möglichkeit, weitgehend frei von Verfolgung in ihrer damals so bezeichneten „gemischtrassigen Ehe“ zu leben und eine Familie zu gründen. Zu den Honeys stoßen mit der Zeit weitere Außenseiter, Indigene oder von Angola stammend, von Kap Verde, Schweden oder Irland.

Sein Garten Eden ist eine Geschichte von fast biblischer Wucht, von Paul Harding lyrisch fein und mit Empathie erzählt. Besonders die Charakterzeichnungen sind ihm außerordentlich gut gelungen. Die Protagonisten sind alle sehr vielschichtig und ambivalent entwickelt. Mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Schrullen und Sehnsüchten kommen sie den Lesenden sehr nah und ein wenig lebt man mit ihnen auf ihrer merkwürdigen, entrückten Insel. Und ist am Ende traurig, dass man auch davon vertrieben wird. Leseempfehlung!

 

saskia-hennig-von-lange-heimSaskia Hennig von Lange – Heim

Die FünfzigerJahre in Deutschland. Seit einer „frühkindlichen Hirnschädigung“ ist die knapp achtjährige Hannah geistig beeinträchtigt, verhaltensauffällig.  Die Hilflosigkeit und Überforderung der Eltern, besonders auch der Mutter Tilda, die ihr Kind manchmal rigoros ablehnt, ist ein Stück weit sicher auch zeitbedingt. Der Umgang mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen noch ein ganz anderer. Die Jahre des Nationalsozialismus, seine Überzeugungen, das was dem Menschen jahrelang eingeimpft wurde, waren noch nicht lange her. Auch in Tilda und Willem ist noch sehr präsent, was mit Hannah geschehen wäre, wäre sie zehn Jahre früher zur Welt gekommen. Und auch die Haltung der Umwelt zu dem Mädchen ist meistenteils ablehnend. Zwischen den Eltern herrscht sehr oft Ratlosigkeit, Uneinigkeit und immer ein großes Schweigen. Auch das ein typisches Phänomen der Zeit. Beide sind auch durch den Krieg schwer traumatisiert.

Hannah soll ins Heim. Wer von den Eltern letztendlich die treibende Kraft ist, bleibt ein wenig offen. Saskia Hennig von Lange verschiebt Innen- und Außenperspektiven, vielleicht denkt tatsächlich jeder der Ehepartner, der andere wäre mehr „schuld“. Über die grässlichen Zustände in den Heimen der damaligen Zeit ist oft berichtet worden. Es nochmal so deutlich zu lesen ist dennoch quälend. Hannah wird sediert, fixiert, vernachlässigt.

Saskia Hennig von Lange hat mit Heim einen bewegenden Roman geschrieben. Psychologisch feinfühlig beobachtet sie ihre Protagonisten und die sie umgebende Gesellschaft. Große Leseempfehlung!

 

 

 

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