Unverändert viel gelesen, aber nahezu nichts besprochen: so lautet (leider) das Fazit zu meiner Lektüre im Juli 2024.
Viel Gartenzeit, Arbeitszeit, Abifeiern des Sohnes und Vor- und Nachbereitung des Literaricum Lech haben dazu geführt, dass ich erstmals in einen Lektüre-Rückblick starte, ohne vorher eines der Bücher besprochen zu haben. Doch Stopp – eine Ausnahme gibt es. Ein Buch, das ich zwar auf meinem Monatslesebild glatt vergessen habe, das aber keinesfalls vergessen gehört und zu einem meiner liebsten bei der Lektüre im Juli 2024 gehörte: Abdulrazak Gurnahs Das versteinerte Herz. Mein Monatsliebling war Das Land, das ich dir zeigen will von Sara Klatt. Eine Autorin, die mir bisher völlig unbekannt war und die mich mit ihrer Rückbesinnung auf Großvater und Eltern und ihre Aufenthalte in Israel sehr positiv überrascht und schlichtweg begeistert hat. Große Empfehlung.
Aber es gab noch mehr Empfehlenswertes:
Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz
Vom Vater verlassen, die Mutter gründet eine neue Familie, vom Onkel in London zu einem ungeliebten Studium gezwungen: Der aus Sansibar stammende Ich-Erzähler Salim fühlt sich ungeliebt und zwischen allen Stühlen. Sein Erwachsenwerde, sein Weg weit fort von der Heimat, Alltagsrassismus, unglückliche Lieben und immer wieder die Frage, warum seine Familie ihn (vermeintlich) verstoßen hat, schildert der Literaturnobelpreisträger in seinem 2017 im Original und nun neu auf Deutsch erschienenen Roman Das versteinerte Herz. Abdulrazak Gurnah ist ein eher konventioneller Erzähler. Was aber keinesfalls negativ gemeint ist. Er ist ein präziser, ruhiger Chronist, die vermeintliche Schlichtheit seiner Erzählung ist äußerst kunstvoll und sein Blick auf Afrika ein sehr kritischer. Der Kolonialismus wirkt fort, aber es sind auch die Afrikaner, die seiner Meinung nach zu wenig daran ändern. So ist Das versteinerte Herz ein melancholischer, fast ein wenig pessimistischer Roman, wären da nicht immer Menschen, die die Hoffnung nicht sterben lassen.
Sara Klatt – Das Land, das ich dir zeigen will
Das Buch der 1990 geborenen Enkelin eines aus Berlin nach Israel ausgewanderten Juden hat mich sehr positiv überrascht und wurde zu meinem Monatsliebling. Mit autobiografischem Hintergrund erzählt Sara Klatt von S., die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, wegen ihrer familiären Wurzeln aber schon von klein auf regelmäßig nach Israel reist, oft zusammen mit ihrem Großvater und Vater. Als junge Frau trampt sie häufig durchs Land, lebt zwischen Jerusalem und Tel Aviv, und lernt auch so viele unterschiedliche Menschen kennen. Von ihnen und vom Leben in Israel, von ihren Eltern und Großeltern erzählt sie so herzenswarm und mitreißend, dass es eine Freude ist.
James Baldwin/Teju Cole – Fremder im Dorf/Schwarzer Körper
James Baldwins Text über seinen Aufenthalt 1951 im kleinen schweizerischen Dörfchen Leukerbad und der unverblümte Rassismus der Dorfbewohner, die meistenteils vorher noch nie einen Schwarzen Menschen gesehen hatten, war meine erste Begegnung mit diesem Autor, der Romane von teils atemberaubender Wucht, mitreißende Essays, sprachgewaltige, von einem starken Rhythmus geprägte Gespräche, aber auch durchaus zu diskutierende Statements zum Verhältnis von Schwarzen und Weißen Menschen, von Schwarzen Menschen zu Weißer Kultur etc. veröffentlicht hat und im Jahr 1987 mit nur 63 Jahren gestorben ist.
Der 1975 geborene nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole, Verfasser des 2012 erschienenen Buchs Open City, reiste 2014 zum 90. Geburtstag Baldwins seinerseits ins Wallis nach Leukerbad und trat in eine Art Dialog zu Baldwins Statement, kein Teil Weißer Kultur zu sein. Die beiden Texte in einem Büchlein miteinander zu konfrontieren, fand ich sehr reizvoll. „Die Welt ist nicht mehr weiß, und sie wird nie wieder weiß sein“ schloss Baldwin seinen Text. Cole fühlt sich selbst heute zwar längst als Teil einer gemeinsamen Kultur, konstatiert aber fast resigniert, angesichts etwa der Polizeigewalt in den USA, dass immer noch Schwarze amerikanische Leben, Schwarze Körper entbehrlich scheinen. „Baldwin schrieb „Ein Fremder im Dorf“ vor mehr als sechzig Jahren. Und nun?“ schließt Cole. Beide Texte erschienen bereits zuvor, Baldwins im Essayband Von einem Sohn dieses Landes, Tejus in Vertraute Dinge, Fremde Dinge.
Jhumpa Lahiri – Das Wiedersehen
Römische Geschichten
Jhumpa Lahiri, in London mit indischen Wurzeln geboren, in Rhode Island aufgewachsen, lange in Rom und nun wieder in den USA lebend, schreibt immer noch zum Teil in ihrer Wahlsprache Italienisch. Bereits in Wo ich mich finde kreiste der Text um das Leben in der Ewigen Stadt. Auch Das Wiedersehen versammelt, wie der Untertitel verrät, Römische Geschichten. Die Protagonisten sind hier sehr unterschiedlich, manchmal haben sie einen Migrationshintergrund und zählen zu den Ausgestoßenen, den Vergessenen und Unterprivilegierten, wie das Hausmädchen oder sind zwar gutsituiert, erleben aber wegen ihrer dunklen Hautfarbe eine direkte Form von Rassismus, manchmal sinnen sie einer verflossenen Jugendliebe hinterher oder konstruieren sich eine nur in der Fantasie existierende Affäre.
Ich-Perspektive oder 3.Person, männlicher oder weibliche Erzählerin – Jhumpa Lahiri legt sich da nicht fest und schreibt durchweg faszinierende, in unserer Zeit verankerte Geschichten und Porträts. Für mich ist die Autorin seit ihrem gleich mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Debüt Melancholie der Ankuft (2000) ein noch viel zu wenig bekannter Geheimtipp.
Jedes Jahr im Mai ein neuer „Fall“ für den venezianischen Commissario Brunetti – sein dreiunddreißigster mittlerweile -. Auf die in der Schweiz lebende Amerikanerin Donna Leon ist Verlass. Und man weiß als treue Leserin nun auch, dass man weder Leichen noch überhaupt schwerwiegende Kriminalität in den neueren Kriminalromanen der Bestsellerautorin erwarten sollte. Donna Leon geht es um andere Dinge, um gesellschaftliche Missstände, um ein verändertes Miteinander der Menschen, um deren Umgang mit der Natur, um die Veränderungen, die ihre ehemalige Heimatstadt Venedig heimsuchen. Diesmal sind es Kinderbanden, die Venedigs Straßen unsicher machen, um soziale Medien, aber auch um den Einsatz italienischer Soldaten im Irak und den Selbstmordanschlag auf das Hauptquartier der Carabinieri in Nassirija im Jahr 2003. Den Romanen von Leon Spannung abzusprechen, wäre ungerecht, denn eine gewisse ruhige Spannung besitzen sie und auch dieses Mal läuft alles wieder auf einen Showdown zu.
Die meisten Leser:innen folgen den Brunetti-Romanen wahrscheinlich sowieso hauptsächlich wegen ihrer Protagonist:innen, die auf eine ganz seltsame Art altern. Das Draußen verändert sich in normalem Tempo, sowohl die Corona-Pandemie als auch die jüngsten städtebaulichen Veränderungen werden durchlaufen, Familie Brunetti, Signorina Elettra, Vize-Questore Patta und alle anderen durchlaufen den Alterungsprozess dagegen quasi in Slow Motion. Die Kinder sind zu Beginn in die Schule gegangen und haben nun ihre Studien fast abgeschlossen und befinden sich damit vermutlich in ihren Zwanzigern. Und auch der Commissario ist zwar schon gealtert, aber von seiner Pension noch entfernt. Das würde ca. 10 Lebensjahren in über 30 Romanjahren entsprechen.
Aber auch das gehört zum Charme des Brunetti-Lesens. Allzu große Veränderungen würden nur irritieren. Man muss das mögen, sonst wird man mit den Romanen nicht glücklich. Ich tue das und freue mich sehr, dass Donna Leon in diesem Jahr den Ehrenpreis des bayerischen Ministerpräsidenten im Rahmen des Bayerischen Buchpreises verliehen bekommt. Congratulazioni, Signora Leon.
Kurt Tucholsky – Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut
Herausgegeben und mit einem Vor- und Nachwort von Robert Stadlober
In letzter Zeit häufen sich die Mahnungen, unsere Zeit würde sehr an die Zwischenkriegszeit erinnern, an die Zeit der instabilen Weimarer Republik. Die Menschen sind angesichts der Weltlage verunsichert, machen sich Sorgen um die Zukunft, fürchten sozialen Abstieg, finanzielle Einbußen. An vielen Weltecken triumphieren die Rechtsextremen und Rückwärtsgewandten. Und auch wenn diese Entwicklungen beunruhigend sind und unbedingt im Auge behalten werden müssen, sind natürlich die Umstände völlig andere. Und dennoch sind die Texte, die Kurt Tucholsky bis zu seinem Suizid im schwedischen Exil 1935 unter seinem Namen oder dem seiner zahlreichen Pseudonyme veröffentlicht hat, von großer Aktualität und Dringlichkeit. Weil er neben den tagespolitischen Themen immer auch das Allgemeingültige im Blick hatte, das, was sich leider kaum ändert.
In seinem „Gruß nach vorn“ heißt es: „Fragen werden von der Menschheit ja nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt ihr fürs tägliche Leben dreihundert nichtige Maschinen mehr als wir, und im Übrigen seid ihr genauso dumm, genauso klug, genauso wie wir.“ Und Robert Stadlober, der für das kleine Büchlein sehr sorgsam Texte ausgewählt hat, schreibt über den/die Verfasser und „(…) ihre Versuche dem ganzen Irrsinn ein klein wenig Freude, ja vielleich sogar Glück, abzuringen und über die Möglichkeiten des Widerstands innerhalb der engen Zäune der Zeit“ in einem schönen Vor- und Nachwort. Für Tucholsky-Liebhaber und Neueinsteiger.
Lars Saabye Christensen – Meine chinesische Großmutter
Ich habe den norwegischen Schriftsteller dänisch-norwegischer Herkunft anlässlich des Gastlandauftritts Norwegen zur Frankfurter Buchmesse 2019 kennengelernt. Sein Oslo Roman Die Spuren der Stadt kann ich sehr empfehlen. Nun hat er ein autobiografisches Buch folgen lassen, Meine chinesische Großmutter betitelt. Das Porträt einer Frau in einem Korbstuhl in tropisch anmutender Pflanzenpracht schmückt auch das Cover des Buchs. Ob es Saabye Christensens Großmutter dartellt, kann man nur vermuten. Ein solches Interieur hat den Autor aber bereits als Kind fasziniert, wenn die Eltern von Oslo zum Besuch der Großmutter in Kopenhagen aufbrachen.
Hulda Christensen war Anfang des 20. Jahrhunderts ihrem Mann, dem Kapitän Jørgen Christensen nach Hongkong nachgereist, der dort bei der Seerettungs- und Bergungsgesellschaft angeheuert hatte. Die chinesischen Jahre der Großmutter waren schon für den kleinen Lars ein Faszinosum. Nun steht er am Bett seines neuzigjährige, sterbenden Vaters und bittet ihn „Erzähl mir von China“. So ist das Buch fast mehr als eines über die Großmutter, die vor mehr als hundert Jahren die nicht ganz ungefährliche, lange Seereise auf sich genommen hat, um ihrer Liebe hinterherzureisen, eines über den sterbenden Vater, das Verhältnis des Autors zu ihm und auch eines über den seefahrenden Großvater, den er nicht mehr kennenlernen durfte. Dass es über die Frauen in seiner Familie so viel weniger Zeugnisse gibt als über die Männer stellt Christensen fest und ist sich der Gefahren bewusst.
«Ich schreibe, um meine Grossmutter zu finden, aber sie entgleitet mir.»
Auch mir hätte tatsächlich ein wenig mehr Konzentration auf die Großmutter besser gefallen, auch wenn die Szenen zwischen Sohn und sterbendem Vater durchaus berührend sind, ohne rührselig zu sein. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch.
26 kurze bis sehr kurze Geschichten, die den Horror des Alltäglichen im Leben eines mittelalten Paares namens Mini und Miki erzählen. Mini stammt aus Serbien, Miki mal aus Oberösterreich, mal aus der Steiermark und die beiden leben als Paar in Wien. Ihre Namen erinnern nicht zufällig an zwei legendäre Comic-Figuren, das Buch hat selbst etwas comichaftes, das im Epilog, der aus 105 Skizzen für „weitere mögliche Horrors“ besteht, besonders hervorkommt. Alles sehr originell und das wurde im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2024 ausgezeichnet.
Manche Geschichten sind so lebensnah (wie die über das dem Sisyphus ähnliche Putzen), manche Formulierungen so treffend (im Urlaub: „Sie müssen liegen und wandern, tanzen und nichts tun, und all das muss pausenlos wunderschön sein, sonst hat sich das gesamte Leben nicht gelohnt und alles ist zum Wegwerfen, man gilt als glücksunfähig und sollte sich erschießen“), dass es eine Freude ist. Manchmal wird es mir aber auch zu albern und schräg, so dass ich nicht mehr folgen mag. Vielleicht sollte man das Buch auch nicht in einem Rutsch lesen (wie ich es getan habe). Immer mal eine der Geschichten „mit wilden Humor und schräger Fantasie“ und voller Absurditäten, die aber die Tragik des Alltags im Blick haben und mit viel Empathie auf ihre beiden sich im Alltagshorror abstrampelnden Protagonist:innen schauen, wären vielleicht die ideale Dosis. Ein „Comic in Prosaform“.
Über das neue Buch von Saša Stanšic muss man, glaube ich, gar nicht mehr viel sagen (ich werde es trotzdem tun, eine ausführliche Rezension folgt), zählt es doch in den sozialen Medien zu den am meisten gezeigten Buchcovern der Frühjahrssaison – mehr oder weniger witziges Scheitern am Auswendigsprechen des Titels stand hoch im Kurs; ich finde den Titel eher das schwächste am Buch – und wurde er auch im Feuilleton sehr positiv besprochen, Spiegelbestsellerliste inklusive. Und tatsächlich hat Saša Stanšic auch einen ganz wunderbaren Erzählton, fügt die 12 zunächst lose nebeneinander stehenden Erzählungen geschickt zusammen, lässt Personal erneut auftreten und macht das Buch schließlich zu einer wunderbaren, weisen, herzerwärmenden Reflexion darüber, was darüber entscheidet, wie ein Leben verläuft, über Kreuzungen und Seitenwege, über alternative Routen, die Zeit und Déja-Vus. Ganz wunderbar!
Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens
Terézia Moras Roman über eine Liebes-Obsession, die die zu Beginn 17jährige Muna zu dem etwas älteren Französischlehrer und Fotograf Magnus entwikelt und die nach dessen Flucht 1989 aus der DDR über Ungarn in den Westen erst nach Jahren wieder in einer recht toxischen Beziehung mündet, habe ich im Juni/Juli zweimal gelesen, um mich auf das Literaricum Lech vorzubereiten. Ich durfte dann mit Terézia Mora ein Interview über das Buch führen, das in Kürze veröffentlicht wird. Dann auch mehr zu meinem Leseeindruck. (Spoiler: Er war sehr gut!)