Der zweite Monat im Jahr 2025 ist nun auch schon wieder Geschichte. Leider hat sich bei mir bezüglich meines Zeitmanagements auch noch nicht viel geändert. So gern ich wieder mehr Zeit für das Stöbern in anderen Blogs oder das sorgfältigere Bearbeiten meines Facebook-Accounts aufbringen würde – wie ich es zu Jahresanfang geplant hatte -, ich komme einfach nicht dazu. Das dringend nötige Redesign meines Blogs muss wohl auch noch eine Weile warten. Gelesen wird zumindest unvermindert weiter. Weswegen ich euch auch eine schöne Zusammenstellung meiner Lektüre im Februar 2025 präsentieren kann.

Therese Deecke – Königin Minna Schmidt
Therese Deecke – Mein frühreifes Herz. Mädchenjahre in Lübeck
Therese Deecke kommt 1844 als Therese Struve in Lübeck auf die Welt. Lebenslustig und intelligent folgt sie wie die meisten Mädchen und Frauen damals dem Ruf in die Ehe. Wie begabt Therese Deecke als Schriftstellerin war, zeigen nun zwei Entdeckungen – ihre autobiografische Niederschrift Mein frühreifes Herz. Mädchenjahre in Lübeck und ihre Novelle Königin Minna Schmidt.
Therese verbrachte Kindheit und Mädchenjahre im bürgerlichen Lübeck der Mitte des 19. Jahrhunderts. Herausgeber Klaus Ungerer ist ihr Ururenkel. Schön, dass er diese kleinen Texte entdeckt und dem Vergessen entrissen hat. In den engen Grenzen, die die Zeit einem Frauenleben steckte, hatte Therese noch Möglichkeiten. Sie konnte die Schule besuchen, wurde von ihrem Vater botanisch unterwiesen, pflegte Umgang u.a. mit dem Lübecker Dichter Emanuel Geibel und brachte kleine Texte zu Papier. Eine Revolutionärin war sie nicht. Und doch spürt man sowohl in ihren autobiografischen Aufzeichnungen als auch in ihrer Novelle über das Waisenmädchen Minna Schmidt sehr deutlich, wie eingesperrt und arm an Möglichkeiten eine junge Frau damals war.
Was für eine wunderbare Schriftstellerin hätte aus Therese in einer anderen Zeit werden können. Sehr atmosphärisch schreibt sie über den Alltag, die Nachbarschaft, die alte ehrwürdige Stadt Lübeck und über den kleinen Schock, der sie ereilte als der bewunderte Direktor ihrer Mädchenschule, der sehr viel ältere Wilhelm Deecke, bei ihrem Vater um ihre Hand anhielt. Die Stadtgesellschaft Lübecks wird lebendig und man liest diese Seiten ausgesprochen gerne. Was für eine schöne Entdeckung.
Barbara Schibli – Flimmern im Ohr
2010. Während in der Schweiz ein weiterer Fichenskandal in der Öffentlichkeit Schlagzeilen macht, „kämpft“ die Ich-Erzählerin Priska mit ihrem neuen Cochlea-Implantat im Innenohr, das ihr nach einem Unfall fast vollständig verlorengegangene Hörvermögen wiederbringen soll, und generell mit dem Älterwerden. Priska ist Ende 50, also ein Stück älter als die 1975 geborene Autorin, leidet unter Wechseljahresbeschwerden und darunter, dass sie sich so angepasst, so alt fühlt. Das wird ihr besonders deutlich, weil sie zum Trainieren mit ihrem Cochlea-Implantat bekannte, oft gehörte Musik hören soll. Das ist für sie besonders die Punk-Musik ihrer rebellischen Jugendjahre. Musik aus den 1980er Jahren, in denen auch sie in den sogenannten „Fichen“ stand, Geheimdienstakten, die Informationen über bestimmte Schweizer Bürger:innen sammelten. Eigentlich sollten darin nur staatsschutzrelevante Personen verzeichnet sein, aber bereits 1989 wurde bekannt, dass auch etliche Akten von „unbescholtenen“ Bürgern bestanden. 2010 kamen erneut illegal erstellte Fichen ans Tageslicht.
Die immer so behäbig wirkende, „friedliche“ Schweiz hatte in den 1980er Jahren mit massiven Jugendunruhen zu tun, die teilweise auch gewalttätig wurden. Die Jugendlichen kämpften um Raum, in denen sie sich treffen konnten, Raum auch für moderne Musik. Während die Stadt viel Geld ins Opernhaus pumpte, gab es diese Räume, gerade auch für „andere“ Musik kaum. Ende der 1980er hatte besonders Zürich zudem ein riesiges Drogenproblem. Das war die Zeit von Priskas Jugend, an die sie sich beim erneuten Hören der damals aktuellen Musik erinnert. Besonders die Gedanken an ihre Liebe zur faszinierenden Gina beschäftigen sie. Ihre Ehe mit Bengt ist dagegen schon lange zur Routine geworden.
Meine Meinung zum Buch ist sehr geteilt. Während ich die Erinnerungen an die Züricher Jugend- und Clubszene, an die damalige Frauenbewegung und die Fichenaffäre sehr interessant fand, haben mich die Ausführungen zum Cochlea-Implantat, zu den Hörübungen und generell die Wechseljahresbeschwerden tatsächlich wenig interessiert. Und das nicht, weil sie mir so fern sind. Der Funke sprang da einfach nicht über. Genauso wenig wie bei der Liebesgeschichte mit Gina. Deshalb gibt es nur eine bedingte Leseempfehlung.
Jessica Knoll – Bright young women
Eines Nachts bricht ein Mann in das Haus einer Studentinnenverbindung in Tallahassee/Florida ein, tötet zwei junge Frauen und verletzt zwei weitere schwer. Die Leiterin des Hauses, die Jurastudentin Pamela ist die Ich-Erzählerin des Romans Brifht young women. Ihre beste Freundin Denise war eines der Mordopfer und Pamela hat den Mörder als einzige gesehen. Auf verschiedenen Zeitebenen begleiten wir sie und eine zweite Ich-Erzählerin, Ruth. Ruth fiel dem Mörder bereits 1974 im Bundesstaat Washington zum Opfer. Ihre Freundin Tina hat das von Pamela erstellte Phantombild in der Zeitung gesehen und knüpft eine Verbindung. Hinweise auf den Täter aus der Bevölkerung wurden damals missachtet. Verhaftet wurde er 1975 durch Zufall: bei einer Verkehrskontrolle entdeckte die Polizei verdächtige Gegenstände im Wagen und bei einer späteren eingehenden Untersuchung wurden Haare eines Mordopfers gefunden. Zweimal entkam er danach aus dem Gefängnis und der Mord in Tallahassee geschah in der Folge.
Ein unglaubliches Versagen der Polizei. Misogyne, sexistische Ermittlungen, die die Aussagen der jungen Frauen nicht ernst nahmen, die die lesbische Beziehung von Ruth und Tina misstrauisch beäugten und Tinas Verdacht von daher nicht berücksichtigten, Medien und Öffentlichkeit, die bis heute den Täter verklären. Einen ganz anderen Weg geht die US-amerikanische Bestsellerautorin Jessica Knoll. Mit einer spürbaren Wut schreibt sie gegen diese Verklärung eines Mannes an, der zwischen 1974 und 1978 mindestens 30 junge Frauen vergewaltigt, getötet und oftmals zerstückelt hat. Der von den Medien und unbegreiflicherweise vielen Frauen als „verdammt gutaussehend“, sehr intelligent, charmant und charismatisch nahezu verehrt wurde und wird, der etliche Bücher bevölkert, dem Filme mit Starbesetzung und eine Netflix-Serie gewidmet wurden.
Man kann Bright young women von Jessica Knoll einiges vorwerfen. So ist der Roman relativ geschwätzig, die Erzählerin greift immer wieder aufdringlich raunend in die Zukunft voraus und auch sprachlich ist das Buch nicht unbedingt brillant. Aber die Wut und Verve, mit denen der Text den Fokus weg von den Tätern hin zu den Opfern lenkt ist beeindruckend.
Hanne Ørstavik – bleib bei mir
„Ich stehe neben dem Tisch im Coffeeshop, und anstatt M anzusehen, blicke ich auf das Mädchen. (…)Ich sehe, wie ängstlich es ist, wie allein. Ich sehe, wie traurig das Mädchen ist, dort bei ihm zu sein. (…) Ganz ruhig stehe ich daneben. Komm, sage ich, lass uns gehen.“
Die Ich-Erzählerin in Hanne Ørstaviks neuem autofiktionalen Roman schaut oft auf dieses Mädchen, das sie war und immer noch zeitweise ist. Trotz aller Erfolge als Schriftstellerin, trotz mittlerweile über 50 Lebensjahren, zwei Ehen und einer Tochter. Ein Mädchen, das wir schon in den vergangenen Romanen kennengelernt haben und das durch mangelnde Aufmerksamkeit, Bestätigung und Liebe der Eltern, durch einen gewaltbereiten Vater, der kein kindliches Urvertrauen aufkommen ließ, ein ängstlicher Mensch, einer ohne viel Selbstvertrauen, stets auf der Suche nach Zugehörigkeit und voller Zweifel, dass ihm diese zustehen könnte, ist.
„Wie kann ich glauben, dass jemand bei mir sein möchte, wenn nicht einmal ich selbst bei mir bin.“
In L. hatte sie einen Menschen gefunden, der ihr das Gefühl gab, geliebt und gewollt zu sein. Er hat ihre Zweifel langsam zum Verschwinden gebracht. Aber L. ist gestorben. Wir haben den Abschied in Ørstaviks Roman Ti amo begleitet. Nun hat die Erzählerin einen neuen Mann in ihr Leben gelassen, der so ganz anders als der kultivierte, ruhige, souveräne L. ist. M. ist siebzehn Jahre jünger, Handwerker, aufbrausend und manchmal nahezu gewalttätig. Auch seine Kindheit war schwierig, gespickt mit Gewalterfahrungen. Die Erzählerin fühlt sich ihm neben der körperlichen Anziehung dadurch nah und verbunden, ignoriert die Warnzeichen, die es immer wieder gibt. Sie erniedrigt sich, wird oft wieder zu dem traurigen, ängstlichen kleinen Mädchen. Sie sieht das, verarbeitet das in einem neuen Roman, in dem sie über Judith schreibt, ein Alter Ego mit den gleichen Erfahrungen und Gefühlen, das sie genauso beobachten kann wie sich als kleines Mädchen.
„Komm sage ich. Lass uns gehen.“
Ich hoffe, sie und das Mädchen in ihr schaffen diesen Absprung, die Befreiung aus einer Liebe, die nicht glücklich macht, besitzergreifend ist, unausgewogen, bedrückend.
Hanne Ørstaviks Ton ist ein ganz besonderer. Zart, tastend, analytisch, poetisch. Ich liebe ihre Bücher sehr. Auch wenn ich mich mit bleib bei mir ein wenig schwer getan habe. „Beende diese toxische Beziehung doch endlich! Was hält dich bei dem Kerl?“ habe ich ihr oft zurufen wollen. Zu oft hat sie es nicht gehört. Aber dann, am Ende: „Komm. Lass uns gehen.“ Ich warte sehnsüchtig auf das nächste Buch von Hanne.
Nikoletta Kiss – Rückkehr nach Budapest
Márta wächst mit ihrer Cousine Theresa in einem kleinen Dorf im Ungarn der 1970er/80er Jahre auf. Ihre Mutter stammt aus der DDR. Theresas Vater erhält einen bedeutenden Posten und zieht mit der Familie nach Ost-Berlin. Die Trennung schmerzt die Freundinnen. Als Márta 18 ist, verlässt ihre Mutter die Familie und der Vater wird schwer alokohlabhängig. Márta flieht nach Berlin und lernt dort den Schriftsteller Konstantin kennen. Beide Cousinen verlieben sich in den rätselhaften und oft auch abweisenden Mann, der eine schwere Kindheit in einem Jugendwerkhof hinter ich hat und Dissidentenkreisen der DDR nahesteht. Konstantin entscheidet sich für Theresa, schätzt Márta aber als „Geistesverwandte“. Das stürzt Márta in Verzweiflung, sie nimmt ein Studium im Budapest auf, kann Konstantin aber natürlich nicht vergessen.
Liebeswirren und Verrat unter Freundinnen sind nun nicht unbedingt mein Thema. Und die Figuren, besonders Márta, haben mich auch ziemlich genervt, mit ihrer Obsession, ihrem ganzen Verhalten und den minutiösen Schilderungen ihrer Seelenzustände. Ich habe das Buch wegen des zeitgeschichtlichen Hintergrunds gelesen und der wird auch recht gut dargestellt. Nikoletta Kiss kann unzweifelhaft schreiben. Die interessanten und spannenden Themen geraten aber in den ganzen Liebeshändeln zu sehr in den Hintergrund und erhalten dadurch keine Tiefe. Leider kein Buch für mich.
Anna Langfus – Gepäck aus Sand
Die am 2. Januar 1920 in Lublin, Polen als Anna-Regina Szternfinkiel als Tochter einer assimilierten jüdischen Familie geborene Autorin verbrachte die Jahre nach 1939 im Ghetto von Lublin. Ihr erster Mann und die Eltern wurden dort ermordet, Anna gelang die Flucht. Als eine der ersten weiblichen Holocaust-Überlebenden begann sie, über die Shoa zu schreiben.
Autofiktional erzählt Langfus in Gepäck aus Sand von der Jüdin Maria aus Warschau, die nach dem Krieg im sommerlichen Paris mit den Schatten der Vergangenheit und ihrem eigenen Überleben kämpft. Gepäck aus Sand beschreibt die tiefe Depression und die Verzweiflung einer Überlebenden der Shoa. 1962 wurde der Roman in Frankreich mit dem Prix Goncourt geehrt. In Deutschland fand die Übersetzung wenig Beachtung. Es war wohl zu früh, man wollte nicht lesen, was Langfus zu erzählen hatte. Umso schöner, dass er nun in einer neuen, hervorragenden Übersetzung von Patricia Klobusiczky in der Anderen Bibliothek vorliegt.
Samantha Harvey – Umlaufbahnen
400 Kilometer über der Erde schwebt die Raumstation auf ihrer Umlaufbahn. In ihr leben, arbeiten, denken und beobachten sechs Astronaut:innen. Ein einfaches Setting, das ideal für ein intensives Kammerspiel, so aber ziemlich neu für die literarische Welt ist. Denn es sind weder Science Fiction-Elemente, noch beklemmende Katastrophen- oder Endzeit-Szenarien, die die britische Autorin Samantha Harvey für ihren 2024 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman Umlaufbahnen bemüht, sondern Alltagsszenen in der Raumstation und immer wieder ausgedehnte Beschreibungen von Erde und All, die im Mittelpunkt des Romans stehen.Bei den Beschreibungen der Erde, der überflogenen Landschaften, der Farben, Texturen, der Lichter in der Nacht schreibt sich die Autorin manchmal in einen wahren Erzählrausch. Das ist unter Umständen poetisch, meist empfand ich es aber als fast unerträglich redundant und sogar ein wenig pathetisch. Knapp hält sich Samatha Harvey hingegen bei ihren sechs Protagonisten – sie alle werden keine wirklichen Charaktere, mit denen man mitfühlen oder für die man sich auch nur besonders interessieren könnte.
So bleibt trotz großer Begeisterung bei Feuilleton, Leser:innen und der Booker-Jury bei mir nur ein eher zwiespältiger Eindruck zurück. Die Idee, einen Roman in einer Raumstation spielen zu lassen und dabei allen SciFi-Schnickschnack wegzulassen, finde ich genial. Und wie Samantha Harvey die Umlaufbahnen und den Alltag dort zu beschreiben weiß, ohne je im All gewesen zu sein, ist beeindruckend. Ein wirklich mitreißender Roman ist für mich daraus leider nicht entstanden.
Arno Frank – Ginsterburg
Der Roman über eine durchschnittliche deutsche Stadt und ihre durchschnittlichen Bewohner:innen in den Jahren 1935, 1940 und 1945 war mein Lesehighlight des Monats. Sehr eindrücklich zeigt Arno Frank daran die Entwicklung, die Radikalisierung, die Verrohung in der Bevölkerung, ohne zu verurteilen oder den Zeigefinger zu erheben. Er arbeitet dabei mit Motiven und gründlich recherchiertem Hintergrundwissen. Auf einer Lesung im Wiesbadener Literaturhaus Villa Clementine verriet der Autor einiges über seinen Arbeitsprozess. Hier folgt bald eine ausführliche Besprechung. Eine Leseempfehlung gibt es schon jetzt.