Der November 2024 war wieder ein richtig guter Lektüre Monat für mich. Nachdem ich im Oktober zwar viel Literatur erlebt habe, aber wenig gelesen, gab es im November nicht nur sehr viele Seiten – unbeabsichtigt, man könnte fast meinen, ich hätte was nachzuholen gehabt 😉 -, sondern auch qualitativ herausragende Bücher. Allen voran vielleicht die Buchpreis-Gewinnerin Martina Hefter mit Hey guten Morgen, wie geht es dir? Ein Buch, das ich fast nicht gelesen hätte, das mich aber absolut abgeholt hat. Fast als wäre es für mich geschrieben worden.
Natürlich habe ich auch die Erstübersetzung eines älteren Modiano-Werks genossen – ihr kennt bestimmt mittlerweile meine große Liebe für diesen französischen Nobelpreisträger. Am überraschendsten war vielleicht meine Begeisterung für Schlaglicht von Rita Bullwinkel – ein Roman über junge Boxerinnen, wo ich mich doch tatsächlich null fürs Boxen interessiere oder es auch nur akzeptieren kann. Aber das schafft eben gute Literatur. Und nun viel Spaß beim Stöbern in meiner Lektüre vom Neovember 2024.
Patrick Modiano – Memory Lane
Wer schon ein wenig länger hier auf dem Blog mitliest erinnert sich vielleicht an meine große Modiano-Liebe. Ich habe ihn tatsächlich erst relativ spät kennengelernt – 2003 mit Unfall in der Nacht -, verfolge seitdem aber mit großem Interesse die relativ regelmäßig erscheinenden, stets schmalen Romane, die alle ein wenig wie Puzzlesteine zum einen großen Lebenswerk des französischen Nobelpreisträgers erscheinen. Als ihm 2014 dieser Preis zugesprochen wurde, war ich dementsprechend sehr beglückt.
Es gibt Leser:innen, denen der Zauber von Modianos Werken verschlossen bleibt. Sie finden ihn „langweilig“, beklagen, dass er stets über die gleichen Dinge schreibt, sich in Details wie Namen, Straßen, Situationen verliert. Ich kann dem nicht wirklich wiedersprechen, für mich macht gerade das den Reiz von Modiano aus. Ich habe darüber einen längeren Beitrag geschrieben, Patrick Modiano lesen : Backlist.
Im Schöffling Verlag erschien nun ein bisher nicht übersetztes kleines Buch von 1981, Memory Lane, übersetzt von Elisabeth Edl und sehr schön illustriert von Pierre Le-Tan. Ich freue mich sehr, dass mit den luftig gesetzten 120 Seiten ein weiteres Mosaiksteinchen in das Lebenswerk Modianos eingesetzt werden kann. Und wie immer geht es um Erinnerung, verlorene Menschen, Orte, Dinge, die den Erinnerungsfluss in Gang setzt. Wie zum Beispiel das Lied „Memory Lane“. Wieder befinden wir uns in den 1960er Jahren, in etwas zwielichtiger Gesellschaft, der Weltkrieg ist noch nicht lange her, Melancholie durchweht die Seiten. Leicht zu lesen, schwierig zu entschlüsseln – ein Modiano für Liebhaber:innen.
Tash Aw – Fremde am Pier
Die Herkunft des 1971 in Taiwan geborenen Autors Tash Aw ist kompliziert. Er ist Malaysier, aber seine Familien stammen aus China. Anfang des 20. Jahrhunderts sind sie in verschiedene Regionen Malaysias übergesiedelt, um der großen Armut in ihrem Heimatland zu entkommen. Aufgewachsen ist Tash Aw dann mit seinen Eltern in der Hauptstadt Kuala Lumpur und hat dort unter seiner Abstammung und Armut immer wieder zu leiden gehabt. In der Schule wurde er gemobbt.Dabei spielt für die Heranwachsenden besonders auch die soziale Stellung der Eltern eine Rolle.
„Es ist die Klasse, nicht die ethnische Zugehörigkeit, die diese Spaltung verursacht. In nur einer Generation haben wir eine hierarchische Gesellschaft aufgebaut.“
Die Ferien bei seinen Großeltern, die im ländlichen Parit im Westen Malaysias einen Laden betrieben, waren die schönsten Kindheitserinnerungen. Zum Studium ging der junge Mann nach England und heute lebt er in Frankreich. Was bedeutet bei einem solchen Lebensweg Herkunft?
Gerade weil seine Eltern und besonders sprechen wollten, wie so oft in asiatischen Kulturen die Vergangenheit ungern erwähnt wurde, gerade wenn sie wegen Arbeit und Scheitern mit Scham besetzt war, schreibt Tash Aw dieses „Porträt einer Familie“, um das Schweigen zu brechen und mehr über seine Herkunft und Familie zu erfahren. Das Buch ist keine Roman, vielleicht im ersten Teil noch nicht einmal ein Memoir, sondern ähnelt hier einem Sachbuch, das die Verhältnisse von chinesischen Einwanderern im 20. Jahrhundert beleuchtet.
Im zweiten Teil wird es persönlicher und intimer, indem Aw sich das Leben seiner Großmutter besieht und diese im Text direkt anspricht. Dann wird die Erzählung empathischer, berührender. Bereits über die Mutter seiner Großmutter ist nichts mehr bekannt, noch nicht einmal ein Name. Vergessen als Schicksal besonders der Armen.
„An ihr Gesicht erinnert sich niemand mehr. Wie sie lachte, was sie glücklich oder wütend machte, die Menschen, die sie liebten, andere, die sie unterdrückten. Nichts ist erhalten gebieben.“
Insgesamt ein sehr schmaler Text, der das Schicksal chinesischer Einwanderer aber auf sehr ansprechende Weise, besonders in Teil 2, thematisiert.
Rike Richstein – Die Farben des Sees
„Tintenschwarz“, „karibisch blau“ oder „türkis mit einem Schuss Flaschengrün“ – die Farben des Bodensees wandeln sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. In ihrem poetisch-leisen Roman widmet Rike Richstein ihnen vor jedem Kapitel eine je knapp einseitige Beschreibung, die viel zum Zauber des Textes beitragen. Die Konstellation der Geschichte ist nicht neu und wird oft bemüht: eine junge Frau, die gerade eine schmerzhafte Trennung hinter sich hat, fährt an den Ort ihrer Kindheit, um sich abzlenken, zu trösten, über vieles klarzuwerden.
Bei Matilde ist es das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter Enni am See. Sehr lange Zeit war sie nicht mehr hier, der Kontakt zu Enni ist nach dem Tode des Großvaters wegen einer Streitigkeit mit der Mutter nahezu abgebrochen. Nun fragt sich Matilde nicht nur, warum es soweit kam, was zwischen ihrer Mutter, die nie darüber sprach, und der Großmutter vorgefallen war, was für ein Mensch ihre Großmutter überhaupt war. In der Nachttischschublade findet sie ein Foto eines unbekannten Mannes – Hans Wells. Wer war das, in welcher Beziehung stand er zur Großmutter? Matilde macht sich auf die Suche.
Wie gesagt, der Plot ist nicht gerade originell. Es ist der ruhige, sanfte, nachdenkliche Ton und die poetisch beschriebene Atmosphäre des Sees, der nicht nur Kulisse ist, sondern auch eine Art Protagonist, die bezaubern und das Buch über viele ähnliche Geschichten heraushebt. Erwähnt werden sollte auch unbedingt die sehr schöne Gestaltung durch den Konstanzer Stadler Verlag – das erstreckt sich vom Cover über die Einbandgestaltung bis zum schönen, luftigen Schriftbild. Ein Buch vom Sommer, das sich gerade jetzt unter der Decke bei herbstlichen Winden ganz wunderbar lesen lässt.
Rita Bullwinkel – Schlaglicht
An einem heißen Juliwochenende im Jahr 20XX treffen sich in Bobs Boxpalast in Reno, Nevada acht junge Frauen, um den (fiktiven) Daughters of America-Cup auszufechten. Es handelt sich angeblich um die renommierteste Meisterschaft für Frauen U19. Trotzdem ist alles ziemlich schäbig. Eine triste Sporthalle, ein Plastikpokal, bei dem der goldene Anstrich bereits zu bröckeln beginnt, „dickwampige“ Ringrichter. Und doch ist der Kampf für die acht jungen Frauen, die antreten, eine sehr wichtige Angelegenheit. Sie fahren selbst Tausende von Meilen von Florida nach Nevada, lassen sich von Großmüttern, Müttern und Eltern aus allen Teilen des Landes herchauffieren, falls sie das Führerscheinalter noch nicht erreicht haben. Was treibt diese Mädchen an? Warum lassen sie sich unter Umständen grün und blau schlagen, setzen ihre Gesundheit aufs Spiel? Das versucht Rita Bullwinkel in Schlaglicht zu ergründen.
In sieben Duellen stehen sich die jungen Frauen gegenüber und Bullwinkels stellt sie uns in Momentaufnahmen , Vor- und Rückblicken vor. Allen Frauen ist gemeinsam, dass sie boxen, um wahrgenommen, endlich gesehen zu werden. Ihre Motivation geht weit über das rein Sportliche hinaus. Sie alle, wir erfahren das in den Ausblicken, werden über kurz oder lang mit dem Boxen aufhören und relativ durchschnittliche, wenn nicht gar triste Leben führen. Was gibt ihnen nun also das Boxen? Aufmerksamkeit? Das Gefühl, gewinnen zu können? Emanzipation? Identität? Mentale Stärke? Solidarität? Wie es Rita Bullwinkel schafft, Interesse und Empathie für alle acht äußerst ambivalent angelegten Protagonistinnen zu wecken, den provinziellen amerikanischen Boxsport auch mit allen Schattenseiten (die Veranstalter, ausschließlich Männer natürlich, streichen stets das Geld ein) nahezubringen und mit lakonischen, an eine Reportage erinnernden Mitteln ein äußerst spannendes, faszinierendes Stück Literatur zu schaffen, verdient höchsten Respekt. Und hat mich nachhaltig begeistert.
Marta Barone – Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Gli anni di piombo – die bleiernen Jahre – wird in Italien die Zeit von Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein genannt, in der im Land große politische Unruhe herrschte, sowohl linksradikale als auch neofaschistische Terrorgruppen zahlreiche Attentate und Morde begingen und die Staatsgewalt darauf mit Härte reagierte. Eher durch Zufall stößt Marta Barone auf Gerichtsakten ihres kürzlich an Krebs verstorbenen Vaters Leonardo. Dieser war in den 80ern der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Als Arzt hätte er Linksterroristen medizinisch versorgt und stände der radikal marxistisch-leninistischen, bewaffneten Terrorgruppe Primera Linea nahe.
Dass ihr Vater, der sich aus dem Arbeitermilieu „hochgearbeitet“ hat, um später seinen Arztberuf für seine kommnistischen Ideale hinzuschmeißen, „links“ war, weiß Marta Barone, aber dass er der streng dogmatischen linken Organisation „Servire il popolo“ angehörte, Terroristen unterstützte und dafür mehrmals im Gefängnis war, ist ihr neu. Wer war dieser Vater, den sie zu kennen glaubte, der aber stets eine gewisse Distanz wahrte? Marta sucht das Gespräch mit Verwandten, alten Freunden des Vaters, einer Ex-Frau und der späten Lebensgefährtin. Die Mutter, von der Leonardo schon länger getrennt lebte, ist dabei keine große Hilfe. Aber es gibt Fotos, Dokumente, Briefe.
Es gibt durchaus auch poetische Stellen im Buch, über weite Strecken ähnelt Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand aber eher einer analytischen Reportage. Das macht das Buch nicht weniger lesenswert, man sollte sich allerdings ein wenig für den (italienischen) (Links)Extremismus interessieren.
Chetna Maroo – Western Lane
Die elfjährige Gopi lebt mit ihren zwei älteren Schwestern Mona und Kush und ihrem Vater am Rande von London. Der Tod der Mutter hat die Familie in eine große Trauer gestürzt und der überforderte Vater flüchtet sich mit seinen Töchtern ins Squash-Spielen. Mehrere Stunden am Tag verbringen sie im Sportpark Western Lane, nach der Schule, in den Ferien, am Wochenende – das exzessive Training ist für sie alle auch eine Art Verdrängung der Trauer und des Schmerzes über den Verlust von Ehefrau und Mutter.
Sehr leise und unspektakulär, ja vielleicht sogar ein wenig zu leise und zu unspektakulär, erzählt Chetna Maroo in Western Lane vom Erwachsenwerden von Gopi, ihrer Trauer, ihren Träumen und Sehnsüchten und der starken Kontrolle und den Forderungen ihrer indischen Community, besonders der Tante.
Themen wie der Generationskonflikt werden sehr behutsam angesprochen, die schlichte Sprache erinnert an ein Jugendbuch. Meiner Meinung nach hätte das Buch durchaus mehr Potential gehabt, was vielleicht auch durch seine Kürze verschenkt wird.
ANDRE KUBICZEK – NOSTALGIA
André Kubiczek wird 1969 in Potsdam in eine sogenannte binationale Ehe hineingeboren. Die Mutter Khemkham stammt aus Laos und hat während des Studiums in Moskau den aus dem Harz stammenden Vater kennen und lieben lernt. Auch wenn Laos und die DDR freundschaftliche Beziehungen pflegen, sind Verbindungen zwischen Bürger:innen und Gaststudent:innen oder Vertragsarbeiter:innen nicht erwünscht und werden verfolgt, meist sogar mit Ausweisung bestraft. Trotzdem gelingt es den Beiden, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten und sogar eine Heiratserlaubnis zu erwirken. Für Khemkham, von allen Teo genannt, bedeutet dies aber die dauerhafte Trennung von ihrer Familie in Laos, da sie als DDR-Bürgerin nicht ausreisen darf. Das Heimweh muss sie geplagt haben, aber zunächst entwickelt sich alles positiv. Zwei Söhne kommen zur Welt, André und Alain, aus dem Zimmer wird bald eine Zweizimmer-, dann eine Dreizimmer-Neubauwohnung in Potsdam-Waldstadt. Doch irgendwann entwickelt sich Alain nicht mehr so wie die anderen Kinder. Zum Alltagsrassismus, den es offiziell in der DDR gar nicht kam, gesellte sich der Ableismus. Früh bekommt die Mutter eine Krebsdiagnose.
Nostalgia ist ein zarter, melancholischer Rückblick auf die eigene Kindheit, auf ein verschwundenes Land und vor allem auf das Leben der Mutter. Der Ton ist trotz aller Traurigkeit, eher leicht, manchmal ironisch, oft schmunzelnd. In der Fülle der Erzählungen über DDR-Kindheiten ist dieser Roman sicher einer der gelungensten. Das wurde mit einer Longlist-Nominierung für den Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Martin R. Dean – Tabak und Schokolade
Tabak und Schokolade – zwei Dinge, die sowohl die Familien des Schweizer Autors Martin R. Dean, als auch seine beiden Herkunftsregionen prägen: Menziken im Schweizer Aargau und die Karibikinsel Trinidad. Von eine Kindheit zwischen diesen beiden Wurzeln in der Schweiz der 1950er und 1960er Jahre, davon erzählt Dean in seinem autofiktionalen Roman. Die Mutter, die in den 1950er Jahren als Au-pair nach London geht und dort den aus vermögender Familie stammenden Ralph Ramkeesoon aus Trinidad kennenlernt. Achtzehnjährig bringt sie 1955 den kleinen Martin zur Welt und geht mit Ralph in die Karibik. Dort entpuppt sich der idealisierte Mann als Trinker und gewalttätiger Macho. Nach vier Jahren auf Trinidad kehrt sie mit ihrem kleinen Kind und einem neuen Mann in die Schweiz zurück. Wie war es für die Msie, nach ihrer karibischen „Eskapade“ mit einem dunkelhäutigen Kind und einem karibischen Mann in die Enge ihrer Heimat zurückzukehren? Wie reagierten die Dorfbewohner? Wie die Eltern?
Die Recherchen führen Martin R. Dean auch nach Trinidad, wo er seine Familie väterlicherseits kennenlernt. Er taucht tief in die Vergangenheit ein, in der die Vorfahren der Familien Raamkeesoon und Sinanan aus Indien als Kontraktarbeiter Großbritanniens auswanderten. Das Buch bietet auch einen Blick auf den britischen Kolonialismus. Gleichzeitig verfolgt er aber auch die Geschichte seiner deutschen Großmutter und seiner Schweizer Vorfahren zurück in der Zeit. Das führt das Buch über eine reine Familiengeschichte weit hinaus.
Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Martina Hefter gewann mit Hey guten Morgen, wie geht es dir den Deutschen Buchpreis 2024. Völlig verdient, und das sage ich, die diesen Roman zunächst gar nicht auf dem Schirm hatte und ihn auch nicht auf meine Longlist-Leseliste aufgenommen hatte, die immerhin 10 der 20 nominierten Bücher umfasste. Warum ich das Buch anfangs ignorierte lag wahrscheinlich am Ankündigungstext und einer mich nicht sonderlich ansprechenden kurzen Leseprobe. Die Themen laut Klappetext: Love-Scammer – also Männer, hauptsächlich aus Entwicklungs- oder Schwellenländer, die online Beziehungen zu (meist älteren) Frauen anknüpfen und diese dann irgendwann finanziell gnadenlos ausbeuten?
Ich habe schon nie verstanden, wie man auf den Enkeltrick hereinfallen kann, aber gut, da sind die Betroffenenen zumindest noch älter und immerhin wird hier mit einer Notsituation umittelbar verwandter/geliebter Menschen gearbeitet. Aber nein, ich wurde auch noch nie derart belästigt und mich interessierte das nicht. Frau mit Schlafstörungen – gut das betrifft mich schon hin und wieder, aber reicht das? Und schließlich das Leben mit einem schwerkranken, teils pflegebedürftigen Mann.
Wie auch immer, ich habe mich anfangs gegen das Buch entschieden, trotz großer Empfehlungen allüberall. Dann kam der Preis und zusätzlich die Nominierung zum Bayerischen Buchpreis, wo ich die Autorin kurz kennenlernte. Und da war es entschieden – ich lese das Buch. Was soll ich sagen: Es ist toll, eines meiner Jahres-Highlights, eines der Bücher, die mich dieses Jahr am meisten angefasst haben. Und das, weil es eben nur nebenbei um Love-Scamming, Schlaflosigkeit und häusliche Pflege geht.
Worum genau es – zumindest für mich – geht und warum mich das Buch so begeistert hat, verdient einen ausführlichen Extra-Beitrag, den ich hoffentlich bald nachreichen kann. Bis dahin kann ich nur raten: lesen! (falls ihr es nicht eh schon getan habt) und verschenken!
Tijan Sila – Radio Sarajevo
Geschätzt mehr als 11.000 Todesopfer forderte die Belagerung der Stadt Sarajevo durch die Armee der bosnischen Serben, Reste der jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs während des Bosnienkriegs. Fast vier Jahre, von April 1992 bis Februar 1996 dauerte sie an. Ständiger Beschuss, Scharfschützen, Mangel an Heizmaterial und Lebensmitteln und zunehmend unzureichende medizinische Versorgung bedeutete das für die knapp 400.000 Einwohner, unter ihnen der 11jährige Tijan. Für ihn ist die Musik, besonders das Programm von Radio Sarajevo und Punkmusik ein Rettungsanker. Einige der Freunde von Tijan begannen Klebstoff zu schnüffeln. Viele stumpften ab, verrohten, Zwischenmenschliches geriet ins Hintertreffen. Auch nach Kriegsende ist der Krieg noch nicht zu Ende. Das macht Silas Erzählung eindrücklich und schonungslos deutlich. Auch wenn die direkte Schilderung von Gewalt eher die Ausnahme bleibt. Ein erschütterndes Pädoyer gegen den Krieg ist das Buch vielleicht gerade deswegen.
Andreas Moster – Der Silberriese
Fast sein ganzes Leben hat Patrik dem Leistungssport gewidmet und auch seine Liebe im Leichtathletikstadion gefunden. Die Amerikanerin Kara wird schwanger, aber Elternschaft und Spitzensport sind schwer vereinbar. Kara pausiert, Patrik trainiert derweil weiter für die Olympiade in Peking. Eines Nachts verlässt Kara völlig überraschend die Familie und Patrik muss sich nun völlig allein um die vier Monate alte Tochter kümmern. So wie er sich auf seine Sportlerkarriere konzentriert hat, konzentriert es sich nun auf das Vatersein. Patrik und Ada – eine symbiotische Beziehung, die immer mehr Spannungen unterworfen ist, je älter das Mädchen wird.
Wie Andreas Moster die Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Vater und Tochter schildert, ist sehr empathisch und intensiv. Die emotionale Abhängigkeit , in die Patrik sich begibt, ist hoch. Die Mutter Kara völlig zu verdrängen, muss scheitern, das Schweigen sich nicht länger aufrechterhalten. Für Patrik ist das ein schmerzhafter Prozess.