Meine Lektüre im Dezember 2024 war vielseitig, überaschend und überwiegend sehr gut. Aus zeittechnischen Gründen habe ich dieses Mal viele Kurzrezensionen verfasst, die hier in der Zusammenfassung des Lesemonats zum ersten Mal erscheinen. Beispielsweise Francesca Melandri – Kalte Füße, Leyla Bektas – Wie meine Familie das Sprechen lernte, José Luís Peixoto – Mittagessen am Sonntag und Ubah Cristina Ali Farah – Der Kommandant des Flusses. Mit Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück habe ich auch ein Backlist-Buch aus 2023 besprochen – ebenfalls hier zum ersten Mal erschienen.
Langsam trudeln auch die ersten Frühjahrs-Novitäten ein. Ich freue mich auf ein spannendes Lesejahr 2025. Wenn ihr nochmal in die Neuerscheinungen hineinschnuppern möchtet, könnt ihr das gerne im entsprechenden Beitrag tun.
Nun wünsche ich euch ein gutes, friedvolles, gesundes Neues Jahr mit immer der richtigen Lektüre. Schön, dass ihr hier immer wieder vorbeischaut, das freut mich wirklich sehr. Ich hoffe, das bleibt auch 2025 so. Bleibt hoffnungsvoll!
Francesca Melandri – Kalte Füße
Die italienische Geschichte, im Besonderen die Zeit des Faschismus, ist immer wieder Thema in den Büchern der Autorin Francesca Melandri. Kalte Füße nun ist kein Roman, sondern eine literarische Befragung des 2012 verstorbenen Vaters und eine essayistische Begleitung des Ukrainekriegs. Melandri verbindet darin ihre Familiengeschichte, ein sehr emotionales Porträt ihres Vaters Franco Melandri, einen historischen Rückblick und eine Art Tagebuch zum aktuellen russischen Angriffskrieg. Dieser hat Melandri sehr erschüttert, besonders als sie erkannte, dass die aktuellen Kriegsschauplätze fast dieselben sind wie im Winter 1942/1943, als ihr Vater als Kommandeur einer schlecht ausgerüsteten Brigade der italienischen Alpini den „Rückzug aus Russland“ mitmachte, bei dem nur einer von zehn Soldaten überlebte und der in Italien einen ähnlich mythischen Status wie beispielsweise Stalingrad für Deutschland besitzt.
Worauf Melandri immer wieder pocht ist, dass es ein Rückzug aus der Ukraine war, das bereits da diese immer wieder verleugnet und mit Russland gleichgesetzt wurde. In Melandris Familie waren die Kriegsgeschichten des Vaters präsent, er selbst hat zwei Bücher darüber geschrieben, die mit kurzen Auszüge vor jeden Kapitel zitiert werden. In einem Interview, das Francesca Melandri mit einem Widerstandkämpfer von damals führte, bezeichnete dieser ihren Vater als „anständigen Faschisten“. Das irritiert die Autorin sehr. Sie recherchiert und verfasst dieser Buch als eine Art Befragung ihres geliebten Vaters, spricht ihn häufig als „Papa“ direkt an, überprüft seine Narrative und entlarvt sie als Narrative der italienischen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die es sich im Opfermythos bequem gemacht hat, ihren Faschismus nie wirklich aufgearbeitet hat und sich jetzt dem rechten Populismus hingibt.
„Aber vielleicht ist Faschismus mehr als alles andere eine Art aufgeblasene Feigheit; ist protzige Eitelkeit, verbunden mit einem untrüglichen Gespür dafür, woher der Wind weht; vielleicht ist er banale Verherrlichung des Konformismus, vergiftet, zu sozialer Kälte verkommener Selbsterhaltungstrieb; Amoral im Dienste des Eigeninteresses oder höchstens im Interesse der eigenen Leute.“
Francesca Melandri ist wütend. Über den Umgang mit der Vergangenheit, darüber, dass man keine Lehren daraus gezogen hat, über die „Feigheit“ im Umgang mit der Ukraine, über eine westeuropäische Gesellschaft, die dieser zu wenig Unterstützung zukommen lässt, die „kalte Füße“ bekommt (wie damals konkret die aus der Ukraine flüchtenden Alpini). Das ist schonungslos, anklagend, sehr emotional. Sehr viele kluge Gedanken, sehr viel historisch Interessantes, aber auch einige Redundanzen. Auf jeden Fall lesenswert. Oder auch hörenswert in der Hörbuchfassung mit Nina Kunzendorf (im Moment noch in der ARD-Mediathek verfügbar).
Leyla Bektas – Wie meine Familie das Sprechen lernte
In alevitischen Familien galt lange Zeit ein Schweigegebot. Auch aus Selbstschutz wurde über die Zugehörigkeit zu dieser Glaubensrichtung geschwiegen. Denn schon immer war sie Verfolgungen und Unterdrückungen, nicht selten auch Pogromen ausgesetzt. So beispielsweise 1937/38 in der Kurdenregion Dersim unter Atatürk, 1978 in Maras und 1993 bei einem Brandanschlag auf ein alevitisches Festival in Sivas.
Auch in Alevs Familie wird nicht darüber gesprochen, dass ihr Vater Mithat aus einer alevitischen Familie stammt. Bereits 1978 folgte er seinem älteren Bruder Hüsnü nach Köln und gründete dort wie dieser mit einer deutschen Frau eine Familie. Bruder Cem wiederum blieb wie die Schwester Sevim in der Türkei und führt dort mit seiner Frau Selen ein äußerst erfolgreiches Textilunternehmen, mit dem sie sehr reich wurde. Viele Urlaube verbringt Alev mit ihrer Familie im Luxus des Onkels. Abgesehen von diesen Familienbesuchen hat Alev wenig Berührung mit der Türkei und den Aleviten. Sie wurde völlig säkular erzogen, beherrscht auch die Sprache nicht. Auch Mutter Magda zieht es nicht besonders in Mithats Heimat. Ein wenig fühlt Alev sich dennoch „zwischen zwei Welten“.
Der Roman von Leyla Bektas beginnt 2017. Alev ist Ende Zwanzig und ihr Onkel Cem liegt im Koma. Er wird sterben. Sein Diabetes wurde von ihm falsch behandelt, er leidet aber auch an den Folgen eines Gefängnisaufenthalts. Der erfolgreiche Alevit war anscheinend zu erfolgreich und wurde wegen seiner Steuerrückforderungen 2010 kurzerhand verhaftet. Türkische Geschichte ist neben der Familienerzählung das zweite große Thema im Roman. In vielen – gut nachvollziehbaren – Zeitsprüngen bewegt sich der Text vom Jahr 2017 aus zurück ins Jahr 1978 und dann chronologisch fortschreitend bis sich die Zeitebenen nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 wieder treffen. Köln, Istanbul, Ankara und Hacıbektaş sind die wichtigsten Handlungsorte. Die Fülle an Figuren kann man am besten mit dem Stammbaum am Ende des Textes im Blick behalten. Wie meine Familie das Sprechen lernten ist ein äußerst aufschlussreicher, gut erzählter und komplex konstruierter Roman, der sich zu lesen sehr lohnt.
José Luís Peixoto – Mittagessen am Sonntag
Mittagessen am Sonntag ist die in Romanform gegossene Biografie eines der reichsten Unternehmer Portugals, des 2023 verstorbenen Rui Nabeiro. Es spielt um den 90. Geburtstag Ruis und wurde passend dazu 2021 veröffentlicht. Mich hätte interessiert, ob es ein Auftragswerk zu diesem Datum war oder warum José Luís Peixoto gerade Nabeiro für seine literarische Biografie ausgewählt hat. Ein Nachwort o.ä. wäre da sehr hilfreich gewesen. Aber das Buch besteht auch ohne diese Information.
In zwei Perspektiven, die sich eng vermischen, wird über den anstehenden Geburtstag und die Feierlichkeiten erzählt und in die Kindheit, Jugend, die Liebesgeschichte zu seiner Frau Alice und die Familiengeschichte zurück geblendet. Die Ich-Perspektive nimmt Gedanken und Gefühle in den Blick, die Erzählstimme berichtet über die Umstände, erzählt auch portugiesische Geschichte. Spanischer Bürgerkrieg, die koloniale Vergangenheit, die Nelkenrevolution und die nachfolgende Demokratisierung sind dabei Schwerpunkte. Die Entwicklung aus einfachen Verhältnissen – der Vater war Chauffeur eines Doktors, die Mutter betrieb eine kleine Fleischerei – zum Besitzer einer der führenden Kaffeeröstereien, die in viele weitere Bereiche expandierte, wird geschildert. Nabeiros Bedeutung für seinen Heimatort Campo Maior im Alentejo, nahe der spanischen Extremadura, woher auch Peixoto stammt, wird deutlich.
Eindrücklicher als die biografischen Details war für mich allerdings die Annäherung an das hohe Alter des Porträtierten. Selten habe ich eine so dichte, komplexe und berührende Darstellung dieses Lebensabschnitts gelesen. Die Gedanken gehen manchmal drunter und drüber, springen vom einen zum anderen, ruhen dann wieder in genauen Beobachtungen und Wahrnehmungen des Hier und Jetzt, wandern dann weit zurück in mehr oder weniger ferne Erinnerungen. Es war ein reiches, ein gutes Leben, an das Nabeiro zurückdenkt. Wehmut erfasst ihn angesichts der vielen verlorenen Menschen, aber auch Glück und Zufriedenheit, weil er die letzten Lebensjahre an der Seite seiner geliebten Frau verbringen darf. Bitterkeit schleicht sich nur ganz selten ein, Melancholie und Wehmut schon. Das Mittagessen am Sonntag ist beglückender Ankerpunkt. Ich mochte den Ton des Romans sehr. Für mich ist es nach Galveias das zweite sehr empfehlenswerte Buch des portugiesischen Autors.
„Es war ein sonniger Sonntag, bis in die entlegensten Winkel erhellt. Senhor Rui war neunzig Jahre alt und alle hatten ebenso ein Alter. Im Angesicht der Zeit wie auch im Angesicht des Universums war es ein unvergesslicher Sonnatag. Der Tisch erwartete sie, sämtliche Plätze mit großer Sorgfalt gedeckt, ein vollkommener und vollendeter Tisch.“
Ubah Cristina Ali Farah – Der Kommandant des Flusses
Die eigene koloniale Geschichte ist den Italienern ähnlich fern und fremd wie lange den Deutschen. Beide Länder scheinen fast überrascht, wenn man sie mit ihrer kolonialen Vergangenheit konfrontiert. Lange Zeit hat man sie mehr oder weniger erfolgreich verdrängt. Eritrea, Libyen, Äthiopien und Somalia waren einst italienische Kolonien. Francesca Melandri hat 2018 einen auch in Deutschland sehr erfolgreichen Roman über diese Vergangenheit anhand von Eritrea und Äthiopien geschrieben. Und bereits 2014 erschien Der Kommandant des Flusses von der 1973 als Tochter eines somalischen Vaters und einer italienischen Mutter in Verona geborenen Ubah Cristina Ali Farah im Original. Seinen Titel hat der Roman von einer alten somalischen Legende. Darin litt das Land durch Wassermangel an einer großen Hungersnot. Die Bauern konnten das Wasser im Fluss nicht nutzen, da dort gefährliche Krokodile lebten. Aus diesem Grund wurde ein Kommandant ernannt, der mit den Tieren verhandeln sollte, damit wieder Ernten möglich wurden.
Zu Beginn begegnen wir dem jugendlichen Protagonisten Yabar im Krankenhaus Fataebenefratelli auf der römischen Tiberinsel, wo er mit einer schweren Augenverletzung, die seine Erblindung bedeuten könnte, liegt. Wie es zu dieser Verletzung gekommen ist, bleibt bis zum Ende unklar und bildet einen der Spannungsbögen. Fortan wird auf verschiedenen Zeitebenen von Yabars Kindheit und Jugend erzählt, so dass man einen Coming of age-Roman in der Hand hält. Wie seine Autorin ist Yabar in Mogadischu aufgewachsen und kurz vor Ausbruch des somalischen Bürgerkriegs 1991 mit seiner Mutter Zarah nach Rom gegangen. Anfangs begleitete sie auch der Vater, dieser ging aber zurück, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Ein Bürgerkrieg, der neben der islamistischen al-Shabaab Miliz vor allem durch Clanrivalitäten bestimmt ist und bis heute andauert.
Der ruhelose, rebellische Yabar ist anders als seine Wahlschwester Sissi, mit deren Mutter, der Bibliothekarin Rosa, Zarah eine tiefe Freundschaft verbindet, ein Schulverweigerer. Anders als Sissi, die wegen ihres italienischen Vaters sehr hellhäutig ist, fühlt sich Yabar wegen seiner Hautfarbe in der römischen Gesellschaft nicht integriert, provoiert, eckt an. Zur Strafe schickt ihn seine Mutter zu Verwandten nach London. Aber auch dort findet er weder zu einer eigenen Identität noch zu Akzeptanz. Fragen zu seinem im Bürgerkrieg verschollenen Vater, die ihm die Familie nicht beantworten will, quälen ihn. Welche Rolle spielte dieser beim Tod des jüngeren Bruders Zahras?
Italiens Kolonialismus, der somalische Bürgerkrieg, Alltagsrassismus in Italien und die afrikanische Diaspora in Rom – Ubah Cristina Ali Farah verwebt das alles zu einem lesenswerten Coming of age-Roman.
Stefanie de Velasco – Liebe Stella oder Radikal hoffnungsvoll in die Zukunft
In der kleinen, feinen Reihe „Briefe an die kommende Generation“ im kleinen, feinen Kjona Verlag hat die Autorin Stefanie de Velasco einen 70seitigen Essay in Form eines Briefes an ein ungeborenes Kind geschrieben. Ungeboren, da vor vierzehn Jahren von der Autorin abgetrieben. Stella, so nennt sie dieses Kind, das nun in einem Alter wäre, in dem Stefanie de Velasco sich selbst von ihrer Familie und den Zeugen Jehovas, denen diese angehört, lossagte. Und in einem Alter, in dem sich viele Teilnehmer:innen der Friday for Future Klimaproteste befinden.
2019 erschien de Velascos Roman über ihre Befreiung aus der Glaubensgemeinschaft Kein Teil der Welt. Es war für die Autorin zugleich eine Zeit, in der sie sich verstärkt mit der Klimakrise beschäftigte. Im November begann sie mit einem Streik in Berlin, bei der sie vor der Akademie der Künste als „German writer on climate strike“ auftrat. Es gab wenig Resonanz, man kann einige Notate unter Klimastreiklogbuch noch auf der Seite ihres Verlags (Kiepenheuer&Witsch) nachlesen.
Ein neues Projekt sollte Aufmerksamkeit für den Klimaschutz schaffen, kollidierte schließlich aber mit der Corona-Pandemie, aber auch an den eigenen Ressourcen und der Sinnhaftigkeit: mit einem zum kleinen Wohnmobil umgebauten Fahrrad sollte es entlang des Elbe-Lübeck-Kanals gehen. Nach drei Wochen musste sie das Projekt als gescheitert betrachten. Statt Frustration und Hoffnungslosigkeit erfasst die Autorin danach aber ein großes Gefühl der Zuversicht, das sie in ihrem Essay an die Lesenden weitergeben will. Das Prinzip der radikalen Hoffnung, die sich klarmacht, dass es keine Rückkehr in „alte Zeiten“ geben kann und die durch diese Erkenntnis ins Handeln, in die Aktion gerät, die eine gute, lebenswerte, neue Zukunft erschaffen kann.
Die Passagen über ihre eigenen (manchmal sonderbaren) Projekte sind meiner Meinung trotz der Kürze des Buchs zu lang geraten, ihre Schlussfolgerungen, dass es keinen Sinn macht, eine Rückkehr in alte Verhältnisse (sei es stetes Wachstum, fossile Ressourcen, alte Friedensordnungen) unter völlig veränderten Rahmenbedingungen anzustreben, sondern dass man eine lebenswerte, friedliche Zukunft neu gestalten muss, sind nicht unbedingt bahnbrechend, aber sollten mehr Gehör finden. Deshalb lesenswert.
„Das Schreiben oder das mündliche Erzählen (…)(die) in der Lage sind, uns zu trösten, zum Lachen zu bringen, zu lieben und uns in fremde Welten und Menschen hineinzuversetzen, lässt mich wieder an das Schöne im Menschen glauben (…) Schreiben ist für mich radikale Hoffnung.“
Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück
Anne Rabe hat mit ihrem Debütroman eine Familiengeschichte aus der Nachwende-Zeit geschrieben, die einiges an Aufmerksamkeit erhalten hat und für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert war. Sie verwebt darin kunstvoll verschiedene Erzählebenen. Da ist einmal die Gegenwartsebene von Ich-Erzählerin Stine Bahrlow. Die ist Mutter zweier Kinder, von Klara und Kurt, die sie so ganz anders erziehen möchte als ihre Eltern das mit ihr und ihrem kleinen Bruder Tim getan haben.
„Was ist Gewalt, denkst du? Und warum wirkt sie so lange nach? Warum vergisst du sie nicht einfach?“
Die Mutter war streng, strafend, oft prügelnd und manchmal direkt grausam zu ihren Kindern. Der Vater bot keinen Schutz, war schwach, aber auch hart. Beide waren eingefleischte SED-Anhänger und haben auch nach dem Mauerfall der DDR nachgetrauert. Inwiefern das System der DDR und die noch fortdauernden Prägungen aus der NS-Zeit, die dort nie aufgearbeitet wurden, die Gewalt auch in Familien getragen hat, ist eine Frage, die das Buch umkreist. Warum herrschte in so vielen Familien Schweigen, Kälte und Lieblosigkeit?
„Wir haben uns an das Schweigen um uns herum gewöhnt und an die Geschichten, die wir nicht verstanden haben. Wir wussten, wann wir besser nicht nachfragten, auch wenn hinten und vorne nichts stimmte.“
„Dieses System ist in die Menschen gekrochen, hat sie geformt und unser Miteinander deformiert.“
Es gab strukturelle Gewalt in Gesellschaft und Schule – Kinder (und Bürger) haben zu funktionieren -, Umerziehungslager für Unbequeme und nach der Wende die „Baseballschlägerjahre“, in denen vor allem rechtsgerichtete Jugendliche gegen Andersdenkende oder -seiende vorgegangen sind. Inwieweit prägt das die Menschen? Und welche Auswirkungen hat das auf die Gesellschaft bis heute? Schonungslos schaut Stine stellvertretend auf ihre Familiengeschichte, auch auf Großmutter Eva und den Großvater Paul, den sie als lieben Opa in Erinnerung hat, der aber gleichzeitig DDR-Funktionär war und seine Tochter, Stines Mutter, äußerst streng erzog.
„Nichts davon ist meine Schuld. Ich fühle mich dennoch schuldig, sodass ich mich noch nie hineingetraut habe in das dunkle Herz der DDR. Ich bin jedes Mal vorher abgebogen.“
Stines Erinnerungen und ihr Abarbeiten an der Mutter, die immer noch gegen sie intrigiert, bilden einen Teil des Textes. Sie werden immer wieder durch essayistische Passagen, Schilderungen ihrer Recherchearbeit zur Familie und durch kursiv gesetzte Abschnitte in der Du-Perspektive ergänzt. So entsteht eine ziemlich schonungslose, komplexe Familiengeschichte, die sicher einiges an autobiografischem Hintergrund besitzt, aber auch eine soziologische Gesellschaftsanalyse. Das ist hochpolitisch und hat vor allem in Ostdeutschland einiges an Unmut ausgelöst. Ich finde, es ist einer der gelungensten Familienromane der letzten Zeit. Durch das zumindest hoffnungsvolle Ende ist es auch eine Emanzipationsgeschichte, mit der Anne Rabe zeigt, das es die Möglichkeit von Glück immer und trotzdem gibt.
Maxim Leo – Junge aus West-Berlin
Band 18 der Lieblingsbuchreihe von Kat Menschik und von dieser illustriert
2016 erschien der erste Band dieser bildschönen kleinen Reihe (Franz Kafkas Ein Landarzt) und ich weiß noch wie wir ein oder zwei Jahre später bei der LitBlogCon – die damals noch von verschiedenen Verlagen in Köln veranstaltete wurde – vom Galiani Verlag einen kleinen Einblick in die aufwändige Fertigung dieser kleinen Kunstwerke erhalten haben. Seitdem sind die verschiedensten Texte erschienen: Klassiker wie Djamila von Tschingis Aitmatow, Unentdecktes wie die Erzählungen von Asta Nielsen oder Anthologien wie Die Puppe im Grase. Oder aber die herrlichen Begleitbändchen zu Volker Kutschers Rath-Reihe. Die Texte waren mal eher Beiwerk, mal großartig.
Maxim Leos Liebesgeschichte zwischen Marc aus Westberlin und Nele aus Ostberlin, die glaubt, der von den „Ostlern“ wegen seiner coolen Klamotten, begehrten Platten und Bücher bewunderte Marc wäre „drüben“ ein bekannter Musikmanager, ist eher Beiwerk zu den in dunklen Grau- und strahlenden Pinktönen gehaltenen Illustrationen. Es ist das Jahr 1989 und wir ahnen, dass Marcs „Ruhm“ und seine Schwindeleien bald aufgedeckt werden könnten. Weshalb er nach dem Mauerfall seine regelmäßigen Besuche auf der anderen Seite abrupt beendet. Vergessen können sich die Beiden aber nicht.
Ich fand die Geschichte recht seicht, insgesamt nicht sehr überzeugend. Ganz nett zu lesen, mehr aber nicht. Gestört hat mich die zur Zeit so trendige Ostalgie, die im Buch und besonders im Nachwort der Illustratorin anklingt. „Fröhlich-bunte Anarchie im grauen Schattenland diesseits der Mauer“ vermeldet denn auch der Verlag. Menschiks Illustrationen sind aber gewohnt grandios und ich freue mich wieder auf einen neuen Volker Kutscher-Text. Denn das hat der Autor verraten: auch nach Ende der Rath-Reihe wird es noch ein kleines, von Menschik illustriertes Bändchen geben.
Emilienne Malfatto – Die Schlangen werden dich holen
Am 5. Januar 2019 wird die 62-jährige Maritza Queiroz Leiva auf der Finca El Diviso im Dschungel der kolumbianischen Sierra Nevada erschossen. Die Hintergründe der Tat bleiben im Dunkeln und werden von den öffentlichen Stellen nicht näher untersucht. In Kolumbien werden trotz Friedensabkommen der Regierungen mit den verschiedenen Guerillagruppen, nach wie vor Menschen, die den Mächtigen im Weg stehen – seien es politische Gegner, soziale oder Klimaaktivist:innen – bedroht und ermordet. Nach 50 Jahren Krieg und geschätzt bis zu einer halben Million Todesopfern, zählte man auch 2019 noch 250 Morde, 2023 lag die Zahl bei 188. Ganz gleich, ob sie sich der Drogenmafia, Kaffeebaronen, Tourismusentwicklern oder dem Bergbau entgegenstellen, engagierte Bürger leben gefährlich.
Bereits Maritzas Mann Alvaró wurde 2004 von der Guerilla ermordet. Und bereits damals wurden die Begleitumstände und Gründe niemals aufgeklärt. Sechs Kinder musste sie nun allein großziehen, engagierte sich außerdem sozial und bewirtschaftete Land in den hauptsächlich dem Kaffeeanbau dienenden Berghängen der Sierra Nevada de Santa Marta.
Die 1989 geborene Emilienne Malfatto nähert sich von verschiedenen Seiten diesem Mord. In für sie nicht ungefährlichen Recherchen spricht sie mit Angehörigen, Freunden, Nachbarn, aber auch mit Ex-Guerilleros und fährt mit dem Motorrad in das schwer zugängliche und unsichere Gebiet. Sie möchte herausbekommen, was 2019 wirklich geschah, die Hintergründe beleuchten, möglicherweise herausbekommen, wer für Maritzas Tod verantwortlich ist. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Aber auch wenn die Tat weiterhin im Dunkeln bleibt, hat Emilienne Malfatto die Ermordete Maritza Queiroz Leiva dem Vergessen, das den Verantwortlichen so entgegenkommen würde, entrissen. Schon allein deswegen ein äußerst lesenswertes Buch.
Tatiana Salem Levy – Der Schlüssel zum Haus
Als im Jahr 2022 die Leipziger Buchmesse wegen Corona zum dritten Mal abgesagt wurde, war besonders bedauerlich, dass das Gastland Portugal nicht die ihm gebührende Bühne fand. Dank der spontan organisierten Popup-Messe fanden aber dann doch zahlreiche Buchbegeisterte den Weg nach Leipzig und auch einige portugiesische Autor:inen waren mit einem spannenden Programm anwesend. Beispielsweise auf dem damals noch existierenden Blauen Sofa der Messe. Dort konnte man Carla Bessa, José Luis Peixoto, Yara Nakahanda Monteiro und eben Tatiana Salem Levy erleben. Diese hatte mit Vista chinesa gerade einen sehr beeindruckenden Roman über eine Vergewaltigung auf Deutsch veröffentlicht. Jetzt liegt, ebenfalls im Secession Verlag, eine traumhaft schöne Ausgabe ihres bereits 2007 erschienenen Romans Der Schlüssel zum Haus vor. Leider fällt mein Urteil dazu nicht ganz so begeistert wie zu Vista chinesa aus.
Es handelt sich um eine Geschichte auf drei Ebenen, die nebeneinander stehen. Da ist zunächst die Ich-Erzählerin, die anfangs wie paralysiert in ihrem Bett liegt, das Zimmer kaum verlässt. Ihr muss etwas Traumatisches geschehen sein. Der Großvater rät ihr, eine Reise zu den Wurzeln ihrer Familie zu machen, um wieder zu sich selbst zu finden. Er gibt ihr den Schlüssel zu seinem Haus in Izmir, das er viele Jahrzehnte zuvor als junger Mann verlassen hat. Nachdem ihm die Beziehung zu Rosa von deren Eltern verboten wurde, weil er sephardischer Jude ist, wanderte er nach Brasilien aus. Dort gründete er eine Familie.
Seine Tochter und ihr Mann waren dort in der kommunistischen Partei aktiv und wurden während der Militärdiktatur verfolgt, verhaftet und gefoltert, das Paar floh nach Portugal. In Lissabon kam ihre Tochter zur Welt und erst nach einer Amnestie 1979 kehren sie ach Brasilien zurück. Die biografischen Eckdaten treffen 1:1 auf die Autorin zu.
Auf der zweiten Ebene liegt die Mutter der Ich-Erzählerin im Sterben. Die Tochter muss schmerzlich Abschied nehmen. Und auf der dritten Ebene wird rückblickend auf eine toxische, schließlich gewaltvolle Beziehung zurückgeblickt. Es wird immer mehr deutlich, dass diese der Grund für das posttraumatische Verhalten der Erzählerin war. Die Geschichte dieser obsessiven, stark aufs Sexuelle konzentrierten Liebe, das Sterben der Mutter und die Reise in die Türkei verwebt Tatiana Salem Levy zu ihrem Roman. Die sexuelle Obsession, der sie sich hingibt und die sehr explizit, fast pornografisch geschildert wird, hat mich ehrlich gesagt abgestoßen. Ihre darauffolgende Paralyse ging mir deshalb nicht wirklich nah. Deutlich berührender war die von Vertreibung und Verlust der Heimat geprägte Familiengeschichte und der Tod der Mutter beschrieben. Hier zeigt die Autorin ihr ganzes Können.
Anne Tyler – Drei Tage im Juni
Anne Tyler ist eine meiner ganz großen Lieblingsautorinnen. Ihr immer sehr genauer, unbestechlicher, aber sehr menschenfreundlicher Blick auf alle ihre Protagonist:innen und ihre heitere, aber nie flache Beobachtung des Alltags sind klug und lebenserfahren. In Drei Tage im Juni schaut sie in erster Linie auf die Ich-Erzählerin Gail. Die ist Anfang sechzig und war lange Jahre als stellvertretende Schulleiterin in Baltimore tätig. Nun wird sie von der Direktorin, die selbst in Pension gehen möchte und eine Nachfolgerin sucht, recht unsanft degradiert. Mangelnde Sozialkompetenz wirft sie ihr vor. Dabei will die von ihr ausgesuchte „Neue“ lediglich ihre eigene Stellvertreterin mitbringen. Das lässt sich Gail nach all den Jahren nicht gefallen und kündigt selbst.
Dabei ist der Zeitpunkt denkbar ungünstig. Ihre einzige Tochter Debbie wird am nächsten Tag heiraten und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Und dann steht auch noch ihr Ex-Mann Max vor der Tür. Im Schlepptau eine Pflegekatze, die er nicht alleinlassen möchte, mit der er aber auch nicht wie geplant bei Debbie unterkommen kann, denn der Bräutigam Kenneth ist hochgradig allergisch auf Katzenhaare. Zähneknirschend nimmt Gail ihren schon immer sehr raumgreifenden Ex bei sich auf. In wenigen Worten schafft Anne Tyler ein feinsinniges und humorvolles Kammerspiel völlig ohne Kitsch oder Klischees. Grandios wie immer.
Ulrike Draesner – zu lieben
Kann man zu lieben lernen? Was bedeutet es überhaupt, zu lieben – das beleuchtet die Autorin Ulrike Draesner anhand der Adoption eines Kindes, ihres Kindes. Nach mehreren Fehlgeburten und unzähligen Versuchen, schwanger zu werden sind die Ich-Erzählerin, die durchaus mit der Autorin gleichgesetzt werden kann, und ihr Mann Hunter schon jenseits der Vierzig. Zu alt für das deutsche Adoptionssystem.
Für solche Fälle gibt es Vereine, die Auslandsadoptionen vermitteln. Die Wahl fällt auf Sri Lanka und die Zeit des Wartens und der bürokratische Hindernisse beginnt. In vier Wochen soll aus den beiden westlichen Menschen und der dreijährigen Mary eine Art Familie werden. Das ist harte Arbeit und hört auch in Berlin nicht auf. Es gibt Fortschritte und Rückschritte und es ist bewundernswert, wieviel Raum die zukünftige Adoptivmutter ihrer „future daughter“ lässt, damit auch manches Mal fast verzweifelt, aber durchhält. zu lieben ist ein wunderbarer Text darüber, dass Liebe auch errungen und bewahrt werden muss. Und welches Geschenk sie ist.
Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen
Dass der Schauspieler Joachim Meyerhoff ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, wissen wir spätestens seit 2011, als der erste Band seiner „Alle Toten fliegen hoch“-Reihe erschienen ist. Sehr sehr lustig, berührend und literarisch erzählt er darin von sich und seiner Familie. Amerika, Wann wird es endlich so wie es nie war oder Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke sind All-Time-Favorites für mich. Bereits in Die Zweisamkeit der Einzelgänger allerdings begann der Zauber der Bücher für mich zu schwinden. Zuviel Gehässiges und zuviel Selbstbespiegelung, was auch im Nachfolgeband über seinen 2018 erlittenen Schlaganfall war das nicht sehr anders. Deshalb habe ich mich über den neuen und sechsten Band mit einigen Vorbehalten gefreut.
Zum Glück findet Meyerhoff hier in der Geschichte seines Rückzugs aus dem stressigen Berlin in die ländliche Idylle auf dem Anwesen seiner 86-jährigen, extrem rüstigen Mutter zu seinem sehr lustigen, anekdotenreichen und selbstironischen Erzählen zurück. Es hat großen Spaß gemacht, ihm an die Ostsee zu folgen. Nur seine hemmungslos ausgesprochene Bewunderung für die Mutter, die doch so einige Ecken und Kanten hatte und hat, die ich nicht wirklich belächeln kann (beispielsweise die drei acht- bis zwölfjährigen Söhne an einer Straße für über eine Stunde einfach „auszusetzen“ oder ihre völlig rücksichtslose Fahrweise) irritiert mich ein wenig. Ich finde diese Frau schon beim Lesen einfach nur anstrengend. Aber wer weiß, wieviel Überspitzung dahinter steckt, Man kann auch in die Höhe fallen ist schließlich ein Roman. Und dazu noch ein vorzüglich unterhaltender.
Philipp Hübl – Moralspektakel
Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht
Mit diesem Buch habe ich mich ziemlich schwergetan. Dabei ist es durchaus gut und sogar unterhaltsam geschrieben und die wichtigste These des Philosophen Philipp Hübl fand ich sehr interessant. Diese lautet, dass in unserer Welt, in der Dinge wie Eigenheim, Auto, Schmuck und Reisen ihre Rolle als Statussymbole weitgehend eingebüßt haben, die Inszenierung der eigenen Moral – zumindest in den gebildeten, fortschrittlichen Kreisen – an deren Stelle getreten ist. Ein sogenanntes „Reputationsmanagement“, vorwiegend in den Sozialen Medien betrieben, sichert und steigert den eigenen Status, das eigene Prestige. Ob Genderthemen, Rassismus, Klimaschutz – alles kann instrumentalisiert werden und zur Bestätigung der eigenen Gruppenzugehörigkeit verwendet werden. Dabei gilt es, wie bei den früheren Statussymbolen, sich gegenseitig zu übertreffen, mit der Gefahr, immer fundamentaler und unnachgiebiger zu werden. Was droht, zum „Moralspektakel“ zu werden.
Für Philipp Hübl ist das reine Symbolpolitik, geht es den Akteuren gar nicht um die Moral an sich, sondern ums eigene Prestige, um Gruppenzugehörigkeit, um Kollektivismus. Dabei neigt der Autor leider zu einer gewissen unzulässigen Verallgemeinerung und Vereinfachung. Und bleibt für viele seiner Thesen wirklich überzeugende Belege schuldig. Und das obwohl das Buch vor Anmerkungen und Quellennachweisen schier überquillt. Der geneigte Leser oder die geneigte Leserin wird keine der wissenschaftlichen Quellen überprüfen wollen oder können. Viele wirken schon beim Zitat zumindest diskussionswürdig.
Beispielsweise bei dem beliebten Feinbild „Gendern“. Hübl führt an, dass es keinerlei belastbare Studien gäbe, die beweisen, das gegenderte Sprache zu mehr Sichtbarkeit von wieblichen und diversen Personen führt. Das Menschen, die mit dem Wort Pilot:in konfrontiert würden, nicht häufiger an eine Frau als an einen Mann denken würden. Dass das Gendern ein relativ neues Phänomen ist, nicht nur Sprache, sondern auch Denk- und Verhaltensweisen sich nur langsam und allmählich verändern – wird nicht berücksichtigt.
Für Philipp Hübl dagegen ist inklusive Sprache ausschließend, weil weniger gebildete Menschen nicht mitreden könnten und sich darum dagegen sperren würden. Wenig überzeugend, denn durch alle Bildungsschichten hindurch wird bestimmte „exklusive“ Sprache benutzt, man denke an viele Anglizismen in Technik, Wirtschaft, aber auch Jugendsprache. Hübl wirft der „Sprachmagie“ zudem vor, von wirklichem Handeln abzuhalten. Auch das für mich eher eine Behauptung.
Eher fragwürdig ist auch, wenn von einer „Opferhierarchie“ in der Fürsorgekultur spricht oder davon, dass eine „selektive Medienberichterstattung“ zu einer Negativverzerrung der Wirklichkeit führen würde. Dabei ist letzteres Phänomen durchaus interessant. So verbessern sich die Zustände auf der Welt – in größerem Zusammenhang und als langfristige Entwicklung gesehen – nachweislich und doch ergeben Umfragen stets das „alles immer schlechter“ wird oder zumindest negativer gesehen wird, als die tatsächliche Lage ist. Das eine auf Aufmerksamkeit gedrillte Medienlandschaft da auch ihr Scherflein zu beiträgt will ich nicht bezweifeln, aber eine „selektive Medienberichterstattung“ ist schon ein Vorwurf mit unangenhemem Beigeschmack.
Sich ausführlich mit dem Buch auseinanderzusetzen würde den Rahmen, die Zeit und meine Neigung dazu sprengen. Es gibt durchaus interessante Gedanken – gerade der, dass die geschilderte Entwicklung zur Spaltung nicht nur der Gesellschaft, sondern gerade auch der „Wohlmeinenden“ führt und von den eigentlichen Gegnern, etwa den extremen Rechten schamlos ausgenutzt wird -, die zur Diskussion anregen, aber insgesamt habe ich mich doch in weiten Teilen nicht wiederfinden können und fand die Argumentation und Beweisführung nicht wirklich überzeugend.