400 Kilometer über der Erde schwebt die Raumstation auf ihrer Umlaufbahn, die den Planet jeden Erdentag lang sechzehn Mal mit einer Geschwindigkeit von 27.000km/h umkreist. In ihr leben, arbeiten, denken und beobachten zwei Astronautinnen, zwei Astronauten und zwei Kosmonauten. Ein einfaches Setting, das ideal für ein intensives Kammerspiel, so aber ziemlich neu für die literarische Welt ist. Denn es sind weder Science Fiction-Elemente, noch beklemmende Katastrophen- oder Endzeit-Szenarien, die die britische Autorin Samantha Harvey für ihren 2024 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman Umlaufbahnen bemüht, sondern Alltagsszenen in der Raumstation und immer wieder ausgedehnte Beschreibungen von Erde und All, die im Mittelpunkt des Romans stehen.
Routinen im All
Es sind die Routinen, die auch im All und vielleicht gerade hier, die Tage bestimmen. Die Toiletten müssen geputzt werden, Experimente an Mäusen, Gemüsepflanzen und Herzzellen durchgeführt werden, Reparaturen erledigt und Fotos gemacht werden. Das Leben in der Schwerelosigkeit auf engstem Raum, die Nächte in schwebenden Schlafsäcken, alle 90 Minuten ein Sonnenauf- und ein Sonnenuntergang – Alltag auf der Raumstation, nichts was noch irgendwie spektakulär wäre. Und so lakonisch wird das auch von Samantha Harvey erzählt. Nur bei den Beschreibungen der Erde, der überflogenen Landschaften, der Farben, Texturen, der Lichter in der Nacht schreibt sie sich manchmal in einen wahren Erzählrausch. Das ist unter Umständen poetisch, meist empfand ich es aber als fast unerträglich redundant und ein wenig pathetisch. Manche Kritiker:innen lesen damit ein wahres „Naturgedicht“, ich war es nach einer Weile in der Fülle leid.
Knapp hält sich Samatha Harvey hingegen bei ihren sechs Protagonisten. Die Japanerin Chie, die hier oben vom Tod ihrer Mutter erfahren muss, die Britin Nell, der US-Amerikaner Shaun, die Russen Roman und Anton und der Italiener Pietro, der mitansehen muss, wie sich über den Philippinen, wo er seine Flitterwochen verbracht und einheimische Freunde gefunden hat, ein fürchterlicher Taifun zusammenbraut – sie alle werden keine wirklichen Charaktere, mit denen man mitfühlen oder für die man sich auch nur besonders interessieren könnte. Die körperlichen Auswirkungen des Weltraum-Lebens werden noch einigermaßen ausführlich geschildert, aber die Frage „Wie verändern sich Denken und Fühlen?“, die auf dem Umschlagstext angesprochen wird, beantwortet der Text für mich nur sehr unzureichend.
Zu viele Beschreibungen
Über den Taifun, der sich zusammenbraut, wird das Thema Klimawandel ein angeschnitten, durch die vielen Seiten Naturbeschreibungen die Fragilität und Schönheit der Erde und der auf ihr lebenden Menschheit thematisiert und seit Ausbruch des Ukrainekriegs ist den westlichen Bewohnern der Raumstation der Besuch der russischen Toilette untersagt, worum diese sich aber herzlich wenig scheren. Das bringt ein wenig die Absurdität und Verantwortungslosigkeit des irdischen Treibens ins Weltall. Davon und mehr über die Menschen, die auf der Raumstation leben und wirken, hätte ich gern gelesen. Die vielen, vielen Seiten über Flussdeltas und Wüstenfarben hätten gern großzügig gekürzt werden können.
„Bald ergreift sie alle ein Verlangen. Das Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen. Dieses wundersame und auf bizarre Weise hübsche Ding. (…) Kann die Menschheit nicht in Frieden miteinander leben? Im Einklang mit der Erde? Das ist kein frommer Wunsch, vielmehr eine gereizte Forderung. Können wir nicht aufhören, die eine Sache, von der unser aller Leben abhängt, zu tyrannisieren und zu zerstören, zu plündern und zu vergeuden?“
So bleibt trotz großer Begeisterung bei Feuilleton, Leser:innen und der Booker-Jury bei mir nur ein eher zwiespältiger Eindruck zurück. Die Idee, einen Roman in einer Raumstation spielen zu lassen und dabei allen SciFi-Schnickschnack wegzulassen, finde ich genial. Und wie Samantha Harvey die Umlaufbahnen und den Alltag dort zu beschreiben weiß, ohne je im All gewesen zu sein, ist beeindruckend. Ein wirklich mitreißender Roman ist für mich daraus leider nicht entstanden.
Beitragsbild via pxhere
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Samantha Harvey – Umlaufbahnen
Aus dem Englischen von Julia Wolf
dtv November 2024, gebunden, 224 Seiten, € 22,00