1994, ein kleine Gemeinde im irischen County Donegal, im Norden des Landes. Colette Crowley kehrt nach einer gescheiterten Flucht aus der provinziellen Enge und Kontrolle zurück nach Ardglas, in dem sie Mann und drei Söhne zurückgelassen hatte. Mit einem verheirateten Mann lebte sie eine Zeitlang in Dublin zusammen und versuchte als Dichterin und Schriftstellerin Fuß zu fassen. Die Beziehung zerbrach und der berufliche Erfolg blieb aus. Alan Murrin erzählt in seinem sehr gelungenen Debütroman Coast Road, für den er bei den Irish Book Awards 2024 als „Newcomer of the year“ ausgezeichnet wurde, wie schwer Colette diese Rückkehr nicht nur von ihrem Ex-Mann Shaun gemacht wird.
Es ist kaum zu glauben, dass Scheidungen in Irland bis 1996 verboten waren. Erst im November 1995 erhielt ein Referendum für deren Legalisierung eine hauchdünne Mehrheit von weniger als 1 Prozent und wurde dann am 17. Juni 1996 umgesetzt. Auch heute noch sind die Regeln für eine Scheidung in Irland besonders streng. Colette konnte sich also von ihrem Mann nicht scheiden lassen, ihr Fortgehen galt als skandalös, wurde streng verurteilt und sorgt in der Kleinstadt für reichlich bösartigen Klatsch. Shaun, der mittlerweile eine neue Partnerin hat, verbietet ihr erfolgreich jeglichen Umgang mit ihren Kindern. Besonders für den kleinen Carl ist das sehr schwer, während der pubertierende Barry gegen die Mutter rebelliert. Um trotzdem in ihrer Nähe zu sein, mietet sich Colette im etwas maroden Sommercottage von Donal Mullen ein und verdient sich Geld mit Schreibworkshops.
Patriarchat, Provinz und Katholizismus
Damit gehört sie durch Bildung und finanzielle Mittel schon zu den privilegierteren Frauen. Andere, wie Donal Mullens Frau Dolores, können an eine Trennung von ihren Männern schon aus ökonomischen Gründen gar nicht denken. Dabei leiden auch sie unter dem rohen Chauvinismus eines kaum infrage gestellten Patriarchats in der katholischen Provinz. Hier haben die Männer uneingeschränkt das Sagen, es herrschen verbreitet Misogynie und Gewalt. Donal Mullen geht ständig fremd, seine Frau ist währenddessen bereits das vierte Mal kurz hintereinander schwanger. Und er hat schon ein Auge auf die neue Mieterin geworfen, die in ihrer Einsamkeit und Isolation unbegreiflicherweise eine Affäre mit ihm anfängt. Und auch zunehmend ihren Alkoholkonsum steigert.
Auch Izzy Keaveneys Ehe mit dem herrschsüchtigen Lokalpolitiker James ist unglücklich. Sie fühlt sich vernachlässigt, eingeengt, kontrolliert. Halt findet sie in der Kirche und bei Pater Brian, der als einzige männliche Gestalt in Coast Road von Alan Murrin sympathisch gezeichnet wird. Durch ihre Teilnahme an Colettes Schreibworkshop kommen die beiden sich näher und freunden sich an. Schließlich hilft Izzy Colette sogar, heimlich ihren kleinen Sohn Carl zu treffen. Was leider nicht lange unentdeckt bleibt.
Dialogreich, empathisch und humorvoll
In einer Prosa mit viel Dialoganteil, empathisch und humorvoll, entwickelt Alan Murrin in Coast Road drei weibliche, durchaus ambivalente Charaktere. Sie sind Opfer der Männer und mit ihrer teils bösartigen Klatschsucht, ihrem Neid und ihrer fehlenden Solidarität zugleich auch in unterschiedlichem Ausmaß Täterinnen. Klassenunterschiede und Bildungsunterschiede spielen dabei eine Rolle. Provinzielle Enge, Trostlosigkeit, soziale und kirchliche Kontrolle, die gerade erst verebbenden militärischen Konflikte im Norden der Insel – alles trägt zu einem Klima der Gewalt und der Verrohung bei. Man kennt das aus vielen irischen Romanen. Den Blick hier auf die besondere Situation der Frauen zu legen und dabei einen zwar im Grundton traurigen, aber nicht schweren, sondern durchaus stellenweise heiteren Roman zu schreiben, der mit seinen gut geschriebenen Dialogen und Perspektivwechseln unterhält, ist dem Autor perfekt gelungen. Das Ende kulminiert in einer Katastrophe und weist trotzdem hoffnungsvoll in die Zukunft.
Besonders schön gestaltet finde ich auch Einband und Schutzumschlag, die sich gegenseitig ergänzen. Eine Empfehlung!
Beitragsbild via pxhere
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Alan Murrin – Coast Road
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
dtv Februar 2025, gebunden, 384 Seiten, € 24,00
Freue mich sehr, in Zukunft automatisch über neue Beiträge von Ihnen informiert zu werden. Ich lese Ihre Rezensionen sehr gerne, sie sind differenziert und kenntnisteich und oft bin ich Ihrer Meinung. Herzliche Grüße Annette Pfannenschmidt
Ach, das freut mich wirklich sehr. Vielen Dank! 💚 Und weiterhin viel Spaß beim Lesen. Ganz herzliche Grüße, Petra