Die Autorin und Fotografin Michèle Yves Pauty beweist in ihrem Debütroman Familienkörper, dass man Familiengeschichte auch ganz anders als gewohnt schreiben kann. In ihrem Text fasst sie die Familie als zusammenhängender Körper. Die Mitglieder sind ineinander verwoben, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur durch ihre Beziehungen zueinander, sondern auch durch das, was in den Familien vererbt wird. Vererbt mit Stolz oder Scham, unbewusst oder absichtsvoll, für alle deutlich oder ganz unbemerkt. Das sind Verhaltensweisen, Ansichten, Haltungen, in die machtvoll äußere Umstände wie Herkunft, Klasse, Bildung und Geschlecht hineinspielen, aber auch ganz greifbare körperliche Dinge, wie Aussehen, Körpermerkmale oder auch Krankheiten bzw. Veranlagungen dazu.
Gerade auch um letztere geht es der Autorin in ihrer Geschichte über drei Frauengenerationen. Die Ich-Erzählerin wächst in den 1980er Jahren mit ihrer Schwester in Innsbruck in Tirol auf. Man wohnt dort im ehemaligen olympischen Dorf, später zieht die Familie aus der Stadt hinaus an den Rand. Das Familiengefüge ist durch die Generationen hindurch nicht unproblematisch. Enttäuschungen, Entbehrungen prägen sich in den „Familienkörper“ ein. Unglückliche Ehen, lieblose, überforderte Mütter, versagende Väter.
„Wie geht es sich um mit den Vätern, die Schattenfugen in die Kindheit setzen? Warum haben wir es Normalität genannt, wenn sie Blut aus den Müttern schlagen?“
Medical Gaslighting
Auch Krankheiten werden vererbt. Die Frauen des Familienkörpers leiden u.a. an Hashimoto-Tyreoditis (einer autoimmunbedingten Zerstörung der Schilddrüse) und Unterleibsproblemen. Die Medizin behandelt weibliche Beschwerden anders als männliche, nimmt sie oft nicht ernst, tut sie als psychisch bedingt ab. Das wird in den letzten Jahren immer deutlicher. Man spricht von „medical gaslighting“. Auch das prägt sich in den Familienkörper ein.
Michèle Yves Pauty erzählt in Fragmenten, zersplittert ihre Erzählung in kaleidoskopartigen, unchronologisch erzählten Episoden und verwebt zeitgeschichtliche Informationen, zum Beispiel zum Reaktorunglück von Tschernobyl hinein. Ganz langsam setzt sich daraus ein Bild von Familie und der sie umgebenden Welt zusammen. Das macht es beim Lesen nicht unbedingt einfach. Ich mochte aber den zarten, tastenden, poetischen Erzählton und habe mich gern mitnehmen lassen. Verloren gegangen bin ich nie, aber am Ende mit dem dringenden Wunsch angekommen, das Ganze noch einmal zu lesen. Mich nochmals in diesen toll erzählten Familienkörper zu begeben.
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Michèle Yves Pauty – Familienkörper
Haymon März 2025, 208 Seiten, gebunden, 23,90 €
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