Marko Dinić – Das Buch der Gesichter

Das Buch der Gesichter von Marko Dinic war unter den für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Romanen mit 464 Seiten der weitaus umfangreichste und sowohl inhaltlich als auch formal sicher auch einer der anspruchvollsten. In acht stilistisch unterschiedlichen Kapiteln aus verschiedenen, sich ergänzenden oder auch widersprechenden Perspektiven werden die Ereignisse an einem ganz bestimmten Tag erzählt.

Es ist ein Sommertag im Jahr 1942 in Belgrad oder genauer gesagt im bis nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängigen Vorörtchen Zemun. Kein x-beliebiger Sommertag, sondern der Tag, an dem Serbien vom SS-Standartenführer Emanuel Schäfer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Serbien, für „judenfrei“ erklärt wurde. Serbien war damit der erste Staat im damaligen Dritten Reich, der von sich behauptete, die „Endlösung der Judenfrage“ erreicht zu haben. Angesichts der neuerlichen Bestrebungen, Geschichtsrevisionismus zu betreiben, nicht nur, aber gerade auch in Serbien, und das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus zu schönen oder zu unterdrücken, ist Das Buch der Gesichter nicht nur ein historisch wichtiges, sondern sehr aktuelles Buch.

Vielstimmig

In der vielstimmigen Figurenperspektive ist die Figur des Isak Ras, der sich früh nicht nur in Voraussicht, sondern auch wegen fehlendem Bezug zu seiner jüdischen Herkunft in Ivan Ras umbenennt, eine besonders zentrale. In einem Prolog erfahren wir von seiner Kindheit und von seiner Mutter Olga, die ihn, nachdem der Vater im Ersten Weltkrieg verschollen war, allein großgezogen hat, und das unter großen Mühen, in großer Armut. Kurz bevor auch sie verschwand, hat sie eine wertvolle Haggada, ein religiöses Buch der Juden, vergraben. Dann war sie plötzlich fort und niemand wusste, was mit ihr geschah.

Isak wächst dann bei Milan und Rosa auf, einem etwas zwielichtigen Anarchistenpaar, in deren Kneipe sich Olga so manches Mal betrank, um ihrem Elend zu entfliehen. Die beiden nehmen sich nicht nur Isaks an, sondern auch Petars, einem elternlosen Jungen, den Isak auf der Straße aufgelesen hat. Später, in der Erzählgegenwart, ist dieser Petar bei den Partisanen, die nach der Okkupation Jugoslawiens durch Deutschland und die verbündeten Achsenmächte im April 1941 gegen die Besatzungsmächte und Kollaborateure wie die Tschetniks oder die Ustascha kämpfen. Mitunter nicht weniger brutal gegenüber Gegnern und Bevölkerung.

Hundeperspektive

Eine besonders interessante Perspektive erhält die Dackelhündin Malka, die Ivan eines Tages zuläuft und die eine geheimnisvolle jüdische Kette um den Hals trägt. Ein sehr reizvolles, mich aber nicht gänzlich überzeugendes Experiment. Die verschiedenen Perspektiven wechseln innerhalb der Kapitel, erhalten mal mehr, mal weniger Gewicht und setzen sich am Ende zu einem schillernden Mosaik zusammen. Zwischengeschaltet wird auch immer wieder mal eine auktoriale Erzählstimme, die kommentiert, vorweggreift, einordnet. Träume erhalten ebenso eine regelmäßig Rolle im Text. Dazu kommen literarische Verweise, etwa auf Alexander Tisma oder Danilo Kis, die schon mit den Motti der einzelnen Kapitel beginnen.

Eine Figur ist besonders bemerkenswert, und zwar die des Mirko Dinic. Ob es in der Familie des Autors ein Vorbild für ihn gibt oder nicht, wird nicht klar und ist auch unerheblich. Mit diesem Erzschurken, der wirklich alles Böse verkörpert, was sich in der serbischen Geschichte dieser Zeit finden lässt, und dem der Autor seinen Familiennamen verleiht (und einen sehr ähnlichen Vornamen), bekennt sich Marko Dinic in Das Buch der Gesichter entgegen dem Trend, Geschichte umzuschreiben, zu negieren oder zu verharmlosen, zu der Verantwortung, die auch wir nach dem Krieg Geborenen zu tragen haben.

Interessant, aber überambitioniert?

Formal sehr interessant, vor allem durch die sprachlich ganz unterschiedlichen Kapitel, historisch und inhaltlich bedeutend, habe ich mit dem Buch doch so einige Schwierigkeiten gehabt. Nicht alle Kapitel waren mir gleich zugänglich, einige hervorragend, andere habe ich nur quergelesen. Der Ton schwankt von überhöht bis extrem derb. Insgesamt entsteht für mich persönlich der Eindruck, der Autor habe sich zu viel vorgenommen, wollte unbedingt einen besonders gewichtigen Roman schreiben. Streckenweise ist ihm das auch gelungen, einige Passagen fand ich schwer lesbar und ermüdend. Beeindruckt bin ich aber dennoch von dem Werk. Dass es den Sprung von der Longlist auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises nicht geschafft hat, spiegelt meine eigene Ambivalenz vielleicht ein wenig wieder.

 

Marko Dinic - Das Buch der Gesichterx

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Marko Dinić – Das Buch der Gesichter
Zsolnay, 464 Seiten, Hardcover, 28,00 € 

 

 

 

 

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