Während es in den 1970er und 80er Jahren eine wahre Flut an autobiografischen oder autofiktionalen Vater-Büchern gab, die sich vor allem mit den Kriegsvätern, ihrer Schuld, ihren Traumata und dem daraus resultierenden Umgang mit ihren Kindern (oft Söhnen) beschäftigten, ist in den letzten Jahren das Mutter-Buch in den Vordergrund getreten. Es gibt sie natürlich immer noch, die Bücher über die Väter (oder Großväter), aber ihr Ton ist anders geworden, wenn nicht verzeihender, so doch mehr ums Verstehen bemüht. Die „Schuld“ dieser Väter ist sicher auch nicht so groß wie die vieler in den Nationalsozialismus verstrickter der vorherigen Generation. Nun rückt vermehrt die Auseinandersetzung mit der Mutter ins Zentrum verschiedener Romane. Meine Mutter von Bettina Flitner und Zwischen uns liegt August von Fikri Anil Altintas, Onigiri von Yuko Kuhn und Wiederholung von Vigdis Hjorth gehörten zu meinen aktuellen Lektüren. Muttermale von Dagmar Leupold, nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2025, schließt sich da an.
Zeitlich gehen wir mit der 1955 geborenen Autorin ein Stück weiter zurück. Die Mutter der Erzählerin ist 1924 in Ostpreußen geboren. In vielem ist ihr Lebensweg prototypisch – Aufwachsen auf dem Land, Erwachsenwerden in Nationalsozialismus und Krieg, zwei Brüder und der Verlobte gefallen, Flucht aus Ostpreußen, Internierung in Dänemark und Zwangsdienst als Krankenpflegerin in einem Lazarett bis 1947, dann Heirat, eher unglückliche Ehe und bescheidener Wohlstand, Mutterschaft, früh verwitwet. Dagmar Leupold will aber mehr als das Leben ihrer Mutter nacherzählen. Sie schafft eine Art Generationengeschichte, auch eine Mentalitätsgeschichte dieser Frauengeneration. Wie ist die Mutter, wie sind viele dieser Frauen zu dem geworden, was sie waren? Unglücklich, verschlossen, schweigsam, liebesunfähig.
Lebensläufe
Ihre Lebensläufe waren durch die Zeit bestimmt, durch den Krieg, aber von Anfang an auch durch Männer, Väter, Brüder, Ehemänner. Die Männer kehrten traumatisiert aus dem Krieg zurück, aber die Frauen erlebten ihre eigenen Traumata, gerade auch diejenigen, die aus dem Osten fliehen mussten. Im Westen kamen viele von ihnen nie wirklich an – nicht willkommen, ausgegrenzt, mit tiefer Sehnsucht nach dem „ganz zu Hause“. Oft blieb neben dieser Sehnsucht, den Verlusten und den Verhärtungen kein Platz für die Liebe zu den Kindern.
„Wenn wir beide, du und ich, Magnete waren, dann solche, die sich stets mit der abstoßenden Seite einander näherten und die entscheidende Drehung, die zur Anziehung geführt hätte, nicht schafften.“
Trotzdem ist Muttermale nicht bitter, kein Buch der Abrechnung. Es ist traurig, bedauernd, den Weg zueinander nicht gefunden zu haben, die Mutter eigentlich gar nicht wirklich gekannt zu haben. Das Schweigen dieser Generationen – auch hier war es stets präsent und schlummert als Mitgift auch in der Erzählerin.
Dagmar Leupold erzählt ihre Muttermale nicht chronologisch, sondern assoziativ. Dinge, Redewendungen, Fotos, die der Erzählerin in die Hände kommen, stoßen kleine Miniatur-Erinnerungen an. Neun Fotografien erhalten als datierte „Lichtspiele“ eigene kurze Kapitel. Die Sprache ist dicht, empathisch, manchmal auch ein wenig sarkastisch.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie ein so oft durchgespieltes Erzählmuster – ein Leben anhand von Fotos oder Erinnerungsstücken zu rekonstruieren – doch erneut überzeugen kann, wieder andere Aspekte aufgreift, sie ein wenig anders beleuchtet und Bekanntes so verschiebt, dass daraus etwas enorm Bereicherndes entsteht. Ich hätte Dagmar Leupold und ihrem Roman Muttermale sehr den Bayerischen Buchpreis 2025 gewünscht. Trotz überschwänglichem Lob durch die Jury ging er leider leer aus.
Beitragsbild: Bundesarchiv, B 145 Bild-P000417 / CC-BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
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Dagmar Leupold – Muttermale
Jung und Jung September 2025, 176 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, € 24,00







