Kristine Bilkau – Halbinsel

Kristine Bilkau ist mit ihrem Roman Halbinsel die diesjährige Gewinnerin des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Mit ihrer einfühlsamen, unaufgeregten Geschichte über eine Mutter-Tochter-Beziehung erzählt sie ganz dicht an der Zeit und doch universell. Ganz große Leseempfehlung!

Annett ist Ende vierzig und lebt allein und zurückgezogen am nordfriesischen Wattenmeer. Als Bibliothekarin arbeitet sie in der nahegelegenen Kleinstadt. Ortkundige tippen dabei auf Nordstrand und Husum, das ist für die Geschichte aber relativ unbedeutend. Nach dem frühen Tod ihres Mannes – erst 32-jährig ist er nach einer verschleppten Grippe auf seiner Joggingrunde an einem Herzanfall gestorben; die kleine Tochter Linn war da erst drei Jahre alt – musste sie ihre Träume von der glücklichen Familie auf dem Lande erst einmal begraben. Das von der verstorbenen Großtante übernommene Haus war noch nicht abbezahlt und finanzielle Engpässe traten immer wieder ein. Aber sie hat es geschafft. Die Tochter Linn konnte studieren und sie einigermaßen zufrieden mit ihrem Hund Bo im kleinen Häuschen am Deich weiterleben.

Zusammenbruch der Tochter

Nun erreicht sie ein Anruf aus Berlin, wo Linn für eine Umweltberatungsagentur arbeitet. Ihre Tochter hätte während eines Vortrags, den sie auf einer Tagung in Sachen Nachhaltigkeit gehalten habe, einen Schwächeanfall erlitten und läge im Krankenhaus. Annett macht sich sofort auf nach Berlin und holt ihre Tochter – vermeintlich vorübergehend – zur Erholung zu sich an die Nordsee. Die 24-jährige Linn zieht wieder in ihr altes Kinderzimmer. Doch die vertraute Atmosphäre, die Annett zunächst genießt, erweist sich als zunehmend schwierig, da Linn keinerlei Anstalten macht, diesen Zustand wieder zu ändern. Jeglicher Elan und Antrieb scheint von ihr gewichen. Aus einigen Tagen werden vier Monate und als Linn eine Stelle in der örtlichen Bäckerei annimmt, scheint eine Rückkehr nach Berlin ausgeschlossen.

Annett erfährt, dass Linn ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hat. Aber welchen Anteil hat sie als Mutter, die stets das Beste für ihr Kind will, sie vielleicht, wie viele heutige Eltern, stets ein wenig zu sehr „in Watte gepackt“ hat, am Zusammenbruch ihrer Tochter? Wo kippt Fürsorge in Kontrolle und Druck? Wo verläuft die Grenze für Eltern zwischen Schutz, Geborgenheit und Zuversicht und dem notwendigen Vorbereiten auf das Leben? Fragen, die sich gewiss alle Eltern schon gestellt haben. Heute besitzen die Kinder oft vermeintlich viele Chancen, stehen aber auch mehr oder weniger unbewusst unter dem Druck, sie nun auch nutzen zu sollen, unbedingt glücklich zu werden, ihren ganz eigenen Weg zu finden. Viele Hoffnungen der Eltern werden auf sie projiziert.

Annett und Linn müssen ihr Leben und ihre Beziehung neu verorten. Für Annett sind die in der Nachbarschaft eingezogenen Studenten von großem Reiz. Sie leben ein vom Konsum relativ distanziertes, vermeintlich freies Leben. Sie erscheinen glücklich, unabhängig.

Fragilität

Die Verortung der Geschichte am Wattenmeer ist mehr als regionale Nähe der in Hamburg lebenden Kristine Bilkau. Die Fragilität dieses Ökosystems entspricht der generellen Fragilität von Beziehungen und der heutigen Welt, was in den letzten Jahren besonders deutlich geworden ist. Auch Klimaorganisationen machen mit der Umweltzerstörung Geschäfte, durch Aufforstungsprogramme, Zertifikathandel. Die junge Generation spürt immer mehr, dass für sie keine Rücksicht genommen wird, sie wenig ausrichten können. Uns alle packt immer wieder eine große Erschöpfung an den Umständen.

Das alles fasst Kristine Bilkau für ihren Roman Halbinsel in die ihr eigene wunderbare Sprache – nachdenklich, unaufgeregt und einfühlsam. Sie flicht fast philosophische Gedanken über Erziehung, Jugend, Elternschaft, Klimaschutz ein. Und führt das auch stilistisch geschickt immer wieder auf die unternommenen Wattwanderungen hin. Das Wattenmeer auch als Gefahr, als unsicherer Ort, der Ängste auslösen kann, in dem man sich verirren kann, wo man Kurs halten muss, um rechtzeitig wieder an Land zu gelangen. Wunderbare Bilder, die aber ganz unauffällig gemalt werden.

Kristine Bilkau lässt den Lesenden auch stets genug Platz, erzählt nicht alles aus. Ein wenig Wut, in welchem Zustand wir die Welt unseren Kindern hinterlassen, wie wenig letztendlich der Mensch bereit ist, Rücksicht auf die Natur zu nehmen, schimmert auch oft hindurch. Und das hat sich leider wenig geändert. Trutz, blanker Hans, Detlev Liliencrons Gedicht über den Untergang der nordfriesischen Küstenstadt Rungholt bei einer Sturmflut 1362 wird immer wieder zitiert.

„Auf allen Märkten, auf allen Gassen

Lärmende Leute, betrunkene Massen.

Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:

„Wir trotzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!“

(…)

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,

Der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.

Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,

Belächelt der protzigen Rungholter Wahn.“

 

Beitragsbild: Naturliebhaberin, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Kristine Bilkau - Halbinsel.

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Kristine Bilkau – Halbinsel
Luchterhand März 2025, Hardcover, mit Schutzumschlag, 224 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

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