Die Fotografin Bettina Flitner veröffentlichte 2022 den autofiktionalen Roman Meine Schwester über ihre Schwester Susanne, die 2017 Suizid beging. Aus einer akuten Trauer heraus beschäftigte Flitner sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte.
„Ich hatte ein Buch über meine Schwester geschrieben. Und jetzt taucht hinter ihr meine Mutter auf.“
Denn auch ihre Mutter hatte sich, fast genau 33 Jahre zuvor, 1984 das Leben genommen. Und war damit nicht die Erste in der Familie. Bereits der Urgroßvater Richard erschoss 1931 seine totkranke Frau Elfriede und sich selbst. Ihm folgten noch weitere Familienmitglieder. Epigenetik? Oder nur eine besonders hart vom Schicksal verfolgte Familie? Ganz sicher wurde die Familie durch diese Suizide geprägt.
Die Wurzeln der Familie liegen in Wölfelsgrund in Niederschlesien, dem heute polnischen Miedzygórze. Hier im Luftkurort, in einem tief eingeschnittenen, abgelegenen Tal im Schatten der Berge hat der Ururgroßvater Heinrich 1884 ein Sanatorium errichtet, das in den folgenden Jahrzehnten boomt. Eine richtige Ärztedynastie bildet die Familie. Auf den suizidalen Richard folgt der Großvater Rudolf, der eine der Töchter, Annemarie, heiratet. Zu diesen beiden hat die Enkelin Bettina ein inniges Verhältnis. Ihre Aufzeichnungen, Tagebücher des Großvaters und Notizen einer Großtante, Briefe der Urgroßmutter und eigene Erinnerungen verflicht die Autorin nun zu einem breit angelegten Familienporträt. Einer Analyse, die sie vielleicht näher an die schon lange verstorbene Mutter führen soll.
Gila im verwunschenen Wölfelsgrund
Was prägt die kleine Gila, die 1936 in diese Umgebung, das verwunschene Sanatorium Wölfelsgrund, hinein geboren wird. Einerseits eine kleine Prinzessin des im Ort hochangesehenen und wohlhabenden Vaters, andererseits, auch das macht der Text deutlich, ein einsames, oft unglückliches Kind. Der Lieblingsbruder Walter kommt aus dem Krieg nicht zurück. Zuvor war er es, der als „weichlich“ angesehene Sohn, der unter dem strengen, unerbittlichen Vater zu leiden hatte. Dass dieser als spöttisch sogenannter Märzgefallener gleich nach der gewonnenen Reichstagswahl im März 1933 der NSDAP beitrat, wird natürlich tunlichst verschwiegen wurde, erfährt die Autorin auch erst im Laufe ihrer Recherchen.
Auf die Kriegs- und Nachkriegszeit, als die Rote Armee auch das abgeschiedene Wölfelsgrund erreicht, aus dem die Familie 1946 vertrieben wird, und auf die Kindheit Gilas legt Bettina Flitner in Meine Mutter ein besonderes Augenmerk. Wie prägt der Nationalsozialismus die Großeltern und ihre Form der Erziehung? Welche frühen Erlebnisse prägen die kleine Gila? Und wie trägt die patriarchale Erziehung dazu bei, dass sie sich stets nur über Männer zu definieren scheint? In Celle in Westdeutschland wird die Familie nach der Vertreibung ansässig. Hier ereignete sich 1945 das Celler Massaker. Auch solche Rechercheergebnisse teilt Bettina Flitner mit ihren Leser:innen.
Eine wenig glückliche Ehe
Gila wird Kindergärtnerin und zieht noch jung nach Hamburg. Dort trifft sie den gutaussehenden Hugbert. Die Ehe der beiden wird keine glückliche, dem stehen schon die blasierten Schwiegereltern im Weg. Aber auch die Untreue Hugberts. Und die Depressionen Gilas. Die promiske Ehe der beiden, in den 1970ern durchaus nicht selten, belastet später auch ihre Kinder Susanne und Bettina. Man kann davon in Meine Schwester lesen.
Im April 1945 wurden ca. 3500 Häftlinge des Neuengammer KZ-Außenlager Salzgitter auf der Flcuht vor der Front in Güterwaggons verladen und in Richtung Norden transportiert. Im Güterbahnhof Celle geriet der Zug am 8. April 1945 in einen US-amerikanischen Bombenangriff. Dabei gelang einigen Häftlingen die Flucht. Diese wurden anschließend von den SS-Wachmannschaften, Angehörigen des Volkssturms und der örtlichen Hitlerjugend gejagt. Den Hetzjagden und Massakern fielen etwa 200 Häftlinge zum Opfer.
Mit Meine Mutter ist Bettina Flitner wiederum ein äußerst berührendes, eindringliches Porträt gelungen. Sie verwebt die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Familiengeschichte mit eigenen Erinnerungen, mit einer Recherchereise nach Wölfelsgrund, bei der sie die noch intakten Sanatoriumsgebäude aufsucht, und historischen Fakten. Das ist ausgesprochen gelungen. Meine Mutter gehört sicher zu den von mir in diesem Jahr am meisten geschätzten Büchern. Ein Highlight.
Beitragsbild: Sanatoriumsgebäude in Wölfelsgrund by Jacek Halicki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Bettina Flitner – Meine Mutter
Kiepenheuer&Witsch September 2025, gebunden, 320 Seiten, € 24,00
 
						






