Mit Und Federn überall stand die deutsch-iranische Schriftstellerin Nava Ebrahimi auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Für mich hätte sie es mit ihrem toll komponierten, vielschichtigen Roman unbedingt auch auf die Shortlist schaffen müssen. Kürzlich wurde ihr der Péter-Horváth-Literaturpreis zugesprochen, der Autorinnen und Autoren auszeichnet, die sich mit Themen des Wirtschafts- und Arbeitslebens befassen.
Zentraler Handlungsort ist ein riesiger Geflügelschlachtbetrieb in der fiktiven emsländischen Kleinstadt Lasseren, hinter der man im Verlauf des Romans recht leicht die niedersächsische Stadt Haren erkennen kann. Neben dem Geflügelbetrieb ist hier auch eine Massenunterkunft für Geflüchtete angesiedelt. Dort ist auch Nassim aus Afghanistan gestrandet. Seit einer frühen Augenkrankheit ist sein Sehvermögen stark eingeschränkt. Er besitzt fast nur noch einen Tunnelblick. Das behindert ihn einerseits, andererseits spekuliert er darauf, dass ihm das Leiden nützlich für seinen Asylantrag sein könnte. Seitdem bewegt er sich in der Öffentlichkeit nur noch mit einem Blindenstock voran. Dieser wird ihm von einem rücksichtslosen Fahrradfahrer bei einem Zusammenstoß zerbrochen. Da der Fahrradfahrer oder die Fahrradfahrerin auch noch Fahrerflucht begeht, wird der Vorfall der große Aufreger im Kleinstadtalltag und erhält einiges an Medienaufmerksamkeit.
Nassim und Roshi
Auch das verbucht Nassim als potentiell nützlich für die Bewilligung seines Antrags. Des Weiteren baut er auf seine Tätigkeit als Lyriker. Ein Gedichtband in deutscher Übersetzung schwebt ihm vor, das könnte ihn aus der Menge der Asylbewerber:innen hervorheben. Aus diesem Grund hat er Kontakt zu Roshi aufgenommen, einer Schriftstellerin, die deshalb – eher widerwillig – ins Emsland reist. Sie erhält im vielstimmigen Roman als einzige die Ich-Perspektive und ist iranischer Herkunft.
Justyna
Nassim bewohnt durch Vermittlung eines Sozialarbeiters endlich eine kleine Souterrainwohnung. Über ihm lebt die Polin Justyna, die früher im Geflügelschlachtbetrieb gearbeitet hat, nun aber froh ist, sich durch Putzjobs und die Pflege einer älteren, dementen Dame so viel zu verdienen, dass sie noch genügend Geld für ihre in Polen studierende Tochter abzweigen kann. Obwohl Justyna zwanzig Jahre älter ist und relativ abgeklärt, entwickelt sich zwischen ihr und Nassim eine zarte Liebesgeschichte. Und zwar eine, die sehr schön und glücklich ist. Da Justyna aber nicht an ihre Zukunft glauben mag, ist sie parallel dazu auf einer Online-Partnervermittlung unterwegs, auf der deutsche Männer polnische Frauen kontaktieren.
Merkhausen
Einer dieser Männer ist Merkhausen, der als Prozessoptimierer im Geflügelbetrieb Möllring tätig ist. Er sucht gezielt nach polnischen Frauen, weil deren Sprache ihn an seine geliebte Oma erinnert. Zu Justyna fühlt er sich gleich hingezogen, gerade weil sie sich ihm nicht anbiedert, sondern klare Kante zeigt. In Sprachnachrichten erzählt er ihr – gegen Bezahlung – von seiner Kindheit, seiner „Babcia“ und deren Geschichte. Auch ein Treffen wird vereinbart.
Lasseren bzw. Haren hat eine ganz besondere Nachkriegsgeschichte. Im Mai 1945 von polnischen Armeeeinheiten unter britischer Führung besetzt, bildete Haren für drei Jahre das politische und kulturelle Zentrum eines polnisch verwalteten Gebiets im Emsland. Die Truppen befreiten damals auch ein Lager mit dort inhaftierten polnischen Frauen. und wurde bald Anlaufpunkt für „displaced persons“ polnischer Herkunft. Bald bildeten rund 30.000 polnische Zivilisten und rund 18.000 polnische Soldaten hier eine Enklave.
Da insbesondere durch die Westverschiebung Polens, aber auch aus Angst vor stalinistischer Verfolgung für viele die Situation im Heimatland noch zu unübersichtlich war, blieben viele in der britischen Zone. Auch Merkhausens Großmutter war darunter. Um Wohnraum zu schaffen, wurde die ansässige deutsche Bevölkerung umgesiedelt, die Stadt erhielt den Namen Maczków. Bis 1948 verließen die meisten Polen nach und nach den Ort wieder, er wurde wieder zu Haren bzw. hier im Roman zu Lasseren. Eine der vielen spannenden Geschichten, die Nava Ebrahimi in Und Federn überall erzählt.
Anna
Ein weiterer wichtiger Handlungsschwerpunkt liegt natürlich im Geflügelschlachtbetrieb und seinen harten Arbeitsbedingungen. Hier bei Möllrings wird unter Merkhausen an einer Prozessoptimierung gearbeitet. Die karrieristische Anna, Kind rumänischer Auswanderer, arbeitet an der Installation von „Golden Eye“, einer softwaregestützten Technik, die bei Hühnerbrüsten Verholzungen identifizieren soll. Die „wooden breasts“ treten in Folge der Massenhaltung und der immer schnelleren Anzucht der Tiere immer häufiger auf und führen zu Ausschuss. Bisher wurde die Prüfung manuell von Arbeiter:innen am Fließband vorgenommen.
Eine, die diese monotone, anstrengende Arbeit verrichtet ist Sonia, eine der wenigen deutschen Mitarbeiter:innen bei Möllring. Der Job sollte für sie eigentlich nur ein Übergangszustand sein, nachdem ihr Mann sie mit den beiden Kindern sitzenließ. Aber hier auf dem Land ist es schwierig, etwas anderes zu bekommen. Und sie ist alleinerziehend und auf das Geld angewiesen. Ihr Traum ist eine Anstellung in der Verwaltung von Möllring. Heute – denn trotz der Themen- und Motivfülle spielt Und Federn überall an nur einem Tag – hat sie ein Vorstellungsgespräch.
Sonia
Wirklich konzentrieren kann sie sich nicht, denn am Morgen gab es Ärger mit ihrer pubertierenden Tochter Leonie, in dessen Folge Sonia diese in ihrem Zimmer eingesperrt hat. Nun hat sie Gewissensbisse und sucht nach einer Lösung, denn von der Arbeit weg kann sie nicht. Bleibt nur ihre demente Schwiegermutter Ruth, die sie um Hilfe bitten kann. Und diese wird gepflegt von Justyna. Hier schließt sich der Kreis, der alle Protagonist:innen zumindest indirekt verbindet. Das könnte sehr konstruiert wirken, fügt sich hier aber ganz zwingend. Als am Ende des Tages ein dicker Spendenscheck der Firma Möllring öffentlichkeitswirksam an den angefahrenen Nassim übergeben werden soll, begegnen sich alle Protagonist:innen tatsächlich auf einem Foto für die Lokalpresse in natura und es gibt noch eine kleine Überraschung. Das ist wirklich sehr schön gemacht.
Man liest Und Federn überall sehr gerne, Nava Ebrahimi verbindet schnelle Perspektivwechsel mit Witz und ein wenig Drama, setzt Leitmotive wie das der Verhärtung (nicht nur von Hühnerbrüsten, sondern auch in Arbeitsverhältnissen, bei Migration, misogynem Umgang in der Arbeitswelt, in Familien) und erzählt viele Geschichten. Zu viele? Ich finde eigentlich nicht. Alles fügt sich zu einem großartigen Roman, dessen Figuren vielleicht ein klein wenig auch Rollenmodelle sind, gleichzeitig aber so komplex und vielschichtig, dass das in den Hintergrund gerät. Immer steht die Frage nach der Menschlichkeit im Zentrum, danach, wie wir Menschen miteinander umgehen.
Für mich einer der besten, wenn nicht gar der beste Roman von den elf Longlisttiteln, die ich gelesen habe.
Beitragsbild by beasternchen via Pixabay
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Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Luchterhand Literaturverlag August 2025, Hardcover, mit Schutzumschlag, 352 Seiten, € 24,00







