Marko Dinić – Das Buch der Gesichter

Das Buch der Gesichter von Marko Dinic war unter den für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Romanen mit 464 Seiten der weitaus umfangreichste und sowohl inhaltlich als auch formal sicher auch einer der anspruchvollsten. In acht stilistisch unterschiedlichen Kapiteln aus verschiedenen, sich ergänzenden oder auch widersprechenden Perspektiven werden die Ereignisse an einem ganz bestimmten Tag erzählt.

Es ist ein Sommertag im Jahr 1942 in Belgrad oder genauer gesagt im bis nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängigen Vorörtchen Zemun. Kein x-beliebiger Sommertag, sondern der Tag, an dem Serbien vom SS-Standartenführer Emanuel Schäfer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Serbien, für „judenfrei“ erklärt wurde. Serbien war damit der erste Staat im damaligen Dritten Reich, der von sich behauptete, die „Endlösung der Judenfrage“ erreicht zu haben. Angesichts der neuerlichen Bestrebungen, Geschichtsrevisionismus zu betreiben, nicht nur, aber gerade auch in Serbien, und das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus zu schönen oder zu unterdrücken, ist Das Buch der Gesichter nicht nur ein historisch wichtiges, sondern sehr aktuelles Buch. Weiterlesen „Marko Dinić – Das Buch der Gesichter“

Jacqueline Kornmüller – 6 aus 49 – Kurz vorgestellt

Jacqueline Kornmüller, Theaterregisseurin und Schauspielerin, hat mich mit ihrer von Kat Menschik reizvoll illustrierten Novelle Das Haus verlassen bezaubert. Ein wenig schräg, ein wenig skurril, ein wenig poetisch und zärtlich. Auch ihren Debütroman hat Kat Menschik mit einem schönen Cover geschmückt. Jacqueline Kornmüller erzählt darin von ihrer 1911 in Niederbayern in einer großen Familie und in großer Armut aufgewachsenen Großmutter Lina, die sich mit viel Fleiß und Arbeit und einer ganzen Portion Glück zur Hotelière und Dank 6 aus 49 zur vermögenden Frau gemacht hat. Weiterlesen „Jacqueline Kornmüller – 6 aus 49 – Kurz vorgestellt“

Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern

Hafenstadt Hamburg in den 1930er Jahren. Spätestens seit dem 30. Januar 1933 treten die braunen Horden auch in der als „rot“ bekannten Stadt immer ungenierter auf. Das bekommen alle Einwohner immer deutlicher zu spüren, besonders aber natürlich die jüdischen Mitbürger und die randständigen, die marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Für letztere interessiert sich die Autorin Anja Kampmann in ihrem großartigen, prallen Roman Die Wut ist ein heller Stern besonders. Es sind die etwas zwielichtigen Etablissements, die ärmlichen Stuben der Arbeiterviertel, die Glitzerwelt der heruntergekommenen Revuetheater, die Bordelle und kommunistischen Sportclubs, die dunklen Hinterhöfe, in denen die Handlung verortet ist. Der Roman legt dabei den Fokus auf die Frauen. Viel zu wenig thematisiert werden nach wie vor die Repressalien und die Verfolgung, die beispielsweise die Prostituierten, Tänzerinnen und Akrobatinnen der Reeperbahn erleiden mussten. Weiterlesen „Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern“

Paul Garbulski – Punch – Kurz vorgestellt

Rummel, Jahrmarkt, Kerb – die Älteren von uns und vor allem die vom Dorf oder aus der Kleinstadt können vielleicht noch nachfühlen, welch besonderes Gefühl es war, zwischen Losbuden, blinkenden Lichtern des Autoscooters, den durcheinander tönenden Popsounds der Raupenbahn, den Schlagern vom Kinderkarussell und den Warnsirenen der Fahrgeschäfte, zwischen den Düften von gebrannten Mandeln und Bratwürsten, mit klebrigen Händen von der Zuckerwatte und schmerzenden Zähnen von der Süße der Liebesäpfel über dieses meist nur einmal im Jahr stattfindende Ereignis zu schlendern. Heute, in Zeiten der Freizeitparks, der Groß-Events und kaum zu überbietenden Veranstaltungsvielfalt erscheinen diese Jahrmärkte fast ein wenig anachronistisch. Ähnlich wie der Zirkus. Und vergessen werden oft die Menschen, die hinter diesen Veranstaltungen stehen und deren Leben oft nicht gerade einfach ist, die von der Gesellschaft vielfach sogar ein wenig schräg angesehen werden. „Fahrendes Volk“ hat man sie früher nicht gerade anerkennend genannt. Paul Garbulski hat diesen Menschen mit Punch einen liebevollen, gelungenen Roman gewidmet. Weiterlesen „Paul Garbulski – Punch – Kurz vorgestellt“

Jehona Kicaj – ё

„Nach dem Aufwachen habe ich einen Splitter im Mund.“ Das Ergebnis eines intensiven Bruxismus, der der Ich-Erzählerin vom Arzt attestiert wird, eines starken Zähneknirschens, bei dem der Zahnschmelz zerstört wird. Dabei ist Zahnschmelz die härteste Substanz des Körpers. Bruxismus und die damit verbundene Knorpelschädigung kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass schmerzfreies Kauen und Sprechen nicht mehr möglich ist. Sprachlosigkeit wäre also eine Folge, dabei zieht sich Sprachlosigkeit und Schweigen bereits durch das Leben der Erzählerin, Kind von nach Deutschland geflüchteten Kosovo-Albanern. Schweigen über die Herkunft, den Krieg, allmählicher Verlust der Muttersprache. Jehona Kicaj wählt für ihren eindringlichen, poetischen Roman den Buchstaben ё als Titel, einen Buchstaben, der in der albanischen Sprache omnipräsent ist, oft aber gar nicht ausgesprochen wird. Weiterlesen „Jehona Kicaj – ё“

Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule

Wie schreibt man über eine Katastrophe, ein Unglück, ein schreckliches Ereignis, das unsägliches Leid hervorgerufen hat, ohne voyeuristisch zu sein, sich dieses Ereignisses nur zu bedienen? Und wer darf darüber schreiben? Nur Betroffene? Und wie betroffen muss man sein, um es zu dürfen, es zu können? Fragen, die sich der Autor Kaleb Erdmann in seinem zweiten Roman Die Ausweichschule stellt. Er, der selbst am 26. April 2002 als Schüler des Gutenberg Gymnasiums in Erfurt Zeuge des Anschlags eines Ex-Schülers war, der elf Lehrern, einer Referendarin, einer Sekretärin, zwei Schülern und einem Polizeibeamten das Leben nahm und die Stadtgesellschaft Erfurts und ganz Deutschland tief und nachhaltig erschütterte.

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Káska Bryla – mein vater, der gulag, die krähe und ich – Kurz vorgestellt

Es ist der September 2020. Die Corona-Pandemie wütet und verunsichert die Welt. Von heute betrachtet wirkt diese Zeit so weit entfernt und wirklich viel Niederschlag in der zeitgenössischen Literatur hat sie (bisher noch) nicht gefunden. Mit dem neuen Roman von Káska Bryla mein vater der gulag die krähe und ich gehen wir nochmal zurück in diese merkwürdige Zeit. Es ist ein autofiktionaler Roman, der auf dem Cover sogar auf eine Genrebezeichnung verzichtet. Die Ich-Erzählerin Káska ist schwer an Corona erkrankt und leidet an Long Covid, persistierenden Atembeschwerden und lähmende Müdigkeit und Schwäche, die damals noch gar nicht wirklich bekannt und erforscht waren. In ihrem ausgebauten LKW-Anhänger lebt sie relativ isoliert auf einem Wagenplatz in Leipzig. Weiterlesen „Káska Bryla – mein vater, der gulag, die krähe und ich – Kurz vorgestellt“

Jan Costin Wagner – Eden

Jan Costin Wagners Romane werden meist als Kriminalromane gelabelt. Dabei waren sie von Beginn an viel mehr als das. Immer sind sie auch Familienromane, die durch psychologische Feinfühligkeit und eine große Melancholie gekennzeichnet sind und in denen es um Verluste, oft um den Tod und den Schmerz darüber geht. Wie weiterleben, wenn etwas Schreckliches geschieht? Das ist in allen Romanen die Frage. Sei es der Verlust der geliebten Frau bei Kommissar Kimmo Joentaa, der in sechs Bänden ermittelte, oder bei Ben Neven, der zwar glücklich verheiratet und Vater einer Tochter ist, aber voll Erschrecken erkennt, dass er pädophil ist. Im neuen Roman Eden beleuchtet Jan Costin Wagner einen terroristischen Anschlag, bei dem die zwölfjährige Sofie ihr Leben verliert, und bewegt sich mit ihm noch weiter fort vom Krimigenre. Weiterlesen „Jan Costin Wagner – Eden“

Henning Sußebach – Anna oder Was von einem Leben bleibt

Immer wieder musste ich bei der Lektüre von Anna: oder Was von einem Leben bleibt – Die Geschichte meiner Urgroßmutter von Henning Sußebach an den Roman Schwebende Lasten von Annett Gröschner denken. Vieles ist unterschiedlich – das eine autobiografische Recherche, eher ein Sachbuch, das andere ein Roman; Anna wurde 1867 in einem nordrhein-westfälischen Dorf bei Soest geboren, Gröschners Hanna Krause in Ostdeutschland kurz nach der Jahrhundertwende; die wurde Dorfschullehrerin im Sauerland, die andere Kranführerin in Magdeburg. Und doch ist etwas ganz Entscheidendes gleich: Es sind Geschichten von Frauen, die sowohl in ihrer Einzigartigkeit als auch in ihrer Normalität viel zu wenig Beachtung finden und oft übersehen werden. „Was bleibt von einem Leben?“ fragt daher auch der 1972 geborene Journalist Sußebach in seinem so aufschlussreichen wie berührendem Buch.

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