Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse

Elif Shafak, die in der Türkei zu den am meisten gelesenen Schriftsteller:innen gehört, wegen ihrer regierungskritischen Haltung aber schon lange nicht mehr wagt in ihr Heimatland zu reisen und bereits sehr lange in London lebt, ist eine absolute Bestsellerautorin, übersetzt in über 50 Sprachen, die in ihren Romanen stets die Stimme für Minderheiten erhebt, und Tabus anspricht, wie Femizide oder den Völkermord an den Armeniern. Wer sie einmal im Gespräch erlebt hat, muss sie wegen ihrer Klugheit, Warmherzigkeit und ihres Engagement einfach bewundern. Ich tue das schon lange. Und einige ihrer älteren Romane, z.B. Der Geruch des Paradieses, Unerhörte Stimmen oder Ehre, sind ziemlich großartig. Es gibt aber immer wieder auch Bücher, die bei mir einen eher durchwachsenen Eindruck hinterlassen. So auch der jüngste Roman von Elif Shafak, Am Himmel die Flüsse.

Auf drei Ebenen plus Prolog widmet sie sich einer Fülle von Themen, jedes davon wichtig, interessant und eindrücklich behandelt. Es beginnt in biblischen Zeiten bei Assurbanipal, dem assyrischen Herrscher, der in Ninive in Mesopotamien eine riesige Bibliothek aufbaute.

London 1840, 2018 und Irak 2014

Im ersten Hauptstrang, zu dem kapitelweise immer wieder zurückgeblendet wird, steigt 1840 im viktorianischen London der Waisenjunge Arthur Smith aus größter Armut zu einem anerkannten Archäologen auf, der sich autodidaktisch anhand von Tontafeln des British Museums die Keilschrift beibringt, eine große Leidenschaft für das Gilgamesch-Epos entwickelt und noch fehlende Tafeln in Ninive am Tigris sucht, findet und dort schließlich an Cholera stirbt. Vorbild war für ihn der englische Assyriologe George Smith.

Auf der Ebene des Jahres 2014 begleiten wir eine ezidische Familie aus der Türkei auf eine Reise in den Irak, bei der sie zufällig Opfer des Völkermordes des IS an den Eziden werden. Das Mädchen Narin hält sich dort mit ihrer Großmutter im selben Dorf auf, in dem Arthur Jahrhunderte zuvor seinen letzten Atemzug getan hat. Dieses Hasankeyf wird 2020 in den Fluten versinken, einem mächtigen Staudammprojekt geopfert. Und mit ihm das Grab von Arthur Smith. Mit vielen anderen Ezid:innen gelingt Narin und ihrer Großmutter zunächst die Flucht in die Berge.

2018 begegnen wir in London der Umweltwissenschaftlerin und Hydrologin Zaleekhah, die über das Gedächtnis von Wasser forscht. Vor einer gescheiterten Ehe, dem anhaltenden Kummer um die einst bei einer Flut ertrunkenen Eltern und dem Druck, den der fürsorgliche, aber besitzergreifende reiche Onkel auf sie ausübt, flieht sie auf ein Hausboot. Vermieterin ist die schillernde Nen, die darauf spezialisiert ist, in Keilschrift zu tätowieren.

Der Wassertropfen

Man sieht, dass die Erzählstränge sich bei verschiedenen Motiven berühren. Die türkische Herkunft, Mesopotamien bzw. der Irak, London, Themse und Tigris, kulturelles Erbe, Rassismus und Umwelt. Dazu kommt der die verschiedenen Ebenen – oft ein wenig aufdringlich – verbindende Wassertropfen, der sich laut Autorin stets erneuert, nie verschwindet.

Archäologie, assyrische Kultur und Raubkunst, Kolonialismus, Rassismus und Islamismus, Verfolgung der Eziden, Umweltschutz und kulturelle Auslöschung – spannende Themen, die Elif Shafak interessant und gekonnt verwebt und präsentiert. Unzweifelhaft ist sie eine versierte Erzählerin. Dennoch kann mich das Buch nicht vollkommen überzeugen. Es ist überkonstruiert, der stetig auftauchende Wassertropfen (ein wenig ein kleiner stilistischer Bruder des mich maximal nervenden Baums in Das Flüstern der Feigenbäume), wenig ambivalente Figuren und der leider immer wieder ins Triviale, Süßliche kippendes Schreibstil stehen für mich auf der Negativseite. Wer sich daran weniger stört, erhält einen gut lesbaren Roman mit viel gut vermitteltem Lexikonwissen. Die anderen warten wie ich hoffnungsvoll und gespannt auf das nächste Buch von Elif Shafak.

 

Deutlich positiver bewertet Sandra in ihren Literarischen Abenteuern den Roman

 

Beitragsbild: Lamassu von Nimrod (British Museum) by Osama Shukir Muhammed Amin FRCP(Glasg), CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse
Übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Hanser Verlag, Hardcover, 592 Seiten, 28,00 € 

 

 

 

 

2 Gedanken zu „Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse

  1. Die Verbindung zwischen der assyrischen Kultur und modernen Themen wie Umweltschutz fand ich besonders spannend im Beitrag. Es zeigt, wie zeitlose Geschichten auch heute noch eine wichtige Rolle spielen können.
    Vielleicht hätte der Roman durch weniger Ebenen und symbolische Elemente wie den Wassertropfen an Tiefe gewonnen. Was denkt ihr, wäre eine Fokussierung auf eine der Erzählstränge effektiver gewesen?

    1. Ja, ich denke, eine oder zwei Ebenen weniger hätten dem Buch gut getan. Und den „verbindenden“ Wassertropfen überflüssig gemacht, der mich tatsächlich etwas genervt hat. Sicher ist es kein schlechtes Buch, für mich aber wirklich etwas überfrachtet und manchmal ein wenig zu nah am Kitsch.

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