Ulla Lenze – Das Wohlbefinden

Gut 50 Kilometer südwestlich von Berlin wurden in dem kleinen brandenburgischen Städtchen Beelitz ab 1898 von der Landesversicherungsanstalt auf über 140 ha Gelände großzügig dimensionierte Heilstätten erbaut. Ulla Lenze lässt ihren aktuellen Roman Das Wohlbefinden, der für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 nominiert war, genau hier spielen.

Vor allem die stark steigende Anzahl an Lungenerkrankten, insbesondere Tuberkulosepatient:innen, und die neu erforschten Behandlungsmethoden führten zu diesem für die damalige Zeit fast ein wenig utopisch erscheinenden Projekt. Da es lange Zeit keine medikamentöse Therapie der Tuberkulose gab – erst 1943 wurde ein wirksames Antibiotikum entdeckt – und auch eine Impfung erst seit den 1920er Jahren zögerlich an Bedeutung gewann, galt es vor allem, den von der Krankheit Betroffenen durch entsprechende Maßnahmen möglichst die Selbstheilung oder doch zumindest ein verlängertes Leben zu ermöglichen. Was dem förderlich ist, hat sich bald gezeigt, und vor allem die Begüterten ließen sich in Lungensanatorien, in Gegenden mit reiner Luft, behandeln.

Tuberkulose – eine Krankheit der Armen

Nun war die Tuberkulose allerdings vorwiegend eine Erkrankung der Armen – entgegen all der Bilder die z.B. der Zauberberg heraufbeschwört. In der Altersgruppe der 15- bis 40-Jährigen ging um 1880 jeder zweite Todesfall in Deutschland auf das Konto der Tuberkulose, bedingt durch ihren schlechteren Ernährungszustand, harter Arbeit und zum Teil katastrophalen hygienischen Bedingungen vor allem bei Arbeiter:innen in den überfüllten Großstädten. Die Idee von Beelitz war nun, dieser ärmeren erkrankten Bevölkerung die gleichen Heilungsmöglichkeiten zukommen zu lassen wie in den Edel-Sanatorien in Davos oder ähnlichen Kurorten. Frische Luft in den Liegekur-Hallen, hochkalorische Mahlzeiten, reinliche Unterbringung, viel Ruhe. Was so altruistisch und angesichts der vorherrschenden Lebensbedingungen der Arbeiter:innen in den Städten sozial-utopisch anmutet, hatte allerdings knallharte kapitalistische Absichten. Es galt, Arbeitskräfte zurückzugewinnen, Ausfallzeiten zu verkürzen.

Beelitz Heilstätten Liegehalle
Beelitz Heilstätten Liegehalle CC BY by Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V.

Drei Zeitebenen

Ulla Lenze widmet diesem Wohlbefinden, das den Erkrankten zur Genesung verhelfen soll, einen der drei Zeitebenen ihres Romans. Anna Brenner, eine der Patientinnen, die angelehnt ist an das damals recht bekannte „Blumenmedium“ Anna Rothe (die allerdings 1908, als der Roman ansetzt bereits verstorben war), spaltet sowohl das Personal als auch ihre Mitpatientinnen. Die einen verehren sie geradezu wegen ihrer spiritistischen Fähigkeiten, andere lehnen sie schroff ab. Der Leiter der Heilstätten, Dr. Blomberg, zeigt sich sehr interessiert an Annas „Gabe“. Er repräsentiert damit eine damals nicht kleine Anzahl von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die sich zu Spiritismus und Okkultismus hingezogen fühlten. Es war die Zeit der Séancen, des „Tischrückens“. Was uns heute einigermaßen suspekt erscheint, war damals, als technische Innovationen wie Röntgenstrahlen, Telegraphie u.ä. entdeckt wurde, ein durchaus auch die Wissenschaft beschäftigendes Thema. Wir begegnen im Roman dem Mediziner Albert von Schrenck-Notzing  und dem Anthroposoph Rudolf Steiner.

Der junge Arzt Dr. Schellmann hingegen lehnt Anna und ihre „übersinnlichen“ Fähigkeiten ab, ermuntert allerdings seine Frau Johanna, die Schriftstellerin ist, einen „Heilstättenroman“ zu schreiben. In Beelitz lernen sich Johanna und Anna kennen und eine Art Freundschaft entsteht.

Auf einer zweiten Zeitebene begegnen wir der gealterten Johanna im Jahr 1967, als sie bereits hochbetagt und reichlich schrullig ein Manuskript über diese Jahre in Beelitz verfassen will. Behilflich dabei ist ihr der junge Klaus. Diesen treffen wir dann in der dritten Zeitebene, die 2020 während der Corona-Pandemie angesiedelt ist, wieder. Hier arbeitet dessen Sohn als Makler in Berlin. Hauptfigur ist allerdings wieder eine Frau, und zwar Vanessa, Urenkelin von Johanna Schellmann, frisch getrennt und in einer beruflichen Krise, die eine neue Wohnung sucht und dabei Klaus kennenlernt. Als dieser erfährt, wer Vanessa ist, übergibt er ihr Johannas Manuskript von 1967, das nach deren Tod bei seinem Vater verblieben ist.

Beelitzer Heilstätten Alpenhaus
Beelitzer Heilstätten Alpenhaus CC BY by Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V.

Gemischtes Fazit

Es ist also einiges an Zufall im Spiel, damit sich die anfangs etwas beziehungslos nebeneinanderher laufenden Stränge treffen können. Vanessas Ebene bildet dabei so etwas wie die Rahmenerzählung und die Ebene von 1967 fungiert als Bindeglied zur weitaus wichtigsten Ebene, der von 1908. Diese ist auch die am gelungenste, während die anderen beiden manchmal ein wenig blass bleiben. Die Geschichte der Beelitzer Heilstätten und des Aufblühens des Spiritismus, der damals regelrechte gesellschaftliche Debatten auslöste, ist gut recherchiert und spannend zu lesen. Auch die Freundschaftsgeschichte zwischen Johanna und Anna ist interessant. Es gibt natürlich auch Parallelen von 1908 ins Pandemiejahr 2020, aber insgesamt interessiert hier die Geschichte um die sich ins Manuskript ihrer Urgroßmutter vertiefende Vanessa weniger.

Eine Konzentration nur auf die Geschichte von Johanna und Anna und der Beelitzer Heilstätten wäre vielleicht gelungener gewesen. Allerdings passiert hier relativ wenig und Johannas Kampf um ihr von ihrer Umwelt belächeltes „weibliches Schreiben“ und ihre Eigenständigkeit hätten dann noch mehr konturiert werden müssen. So fällt das Urteil über Das Wohlbefinden von Ulla Lenze ein wenig gemischt, aber doch überwiegend positiv aus. Die Beelitzer Heilstätten haben sich mir als Ort, den ich unbedingt einmal aufsuchen muss, zumindest eingebrannt.

 

Bei Marina literaturleuchtet und dem Bücheratlas findet ihr weitere Besprechungen diese für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierte Buch

 

Beitragsbild: CC BY @ Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V.

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Ulla Lenze - Das Wohlbefinden.

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Ulla Lenze – Das Wohlbefinden
Klett-Cotta Verlag August 2024, 336 Seiten, gebunden, € 25,00

 

 

 

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