Es gibt eine kleine Neuerung auf dem Blog. Allerdings noch nicht die angekündigte (kleine) Umstrukturierung oder zumindest nur ein Teil davon. Ich möchte LiteraturReich ein wenig anders gestalten, ein wenig technisch und optisch verbessern, aber das nimmt recht viel Zeit in Anspruch. Aber ich lese (und höre) seit einiger Zeit mehr als ich hier ausführlich vorstellen kann. Ich habe das bisher so gelöst, dass ich Titel, die ich aus verschiedenen Gründen nicht im gewohnten Umfang besprechen konnte, in kürzerem Format in meinen Lesemonaten vorgestellt habe. Dies hat aber diese Rubriken so aufgebläht, dass das manchen Besucher:innen meiner Seite zu umfangreich war. Und diese Lesemonate sollen ja auch tatsächlich nur kurze Überblicke über meine vergangene Lektüre sein. Deshalb gibt es jetzt neu die Rubrik „Kurz vorgestellt“, in der diese Kurzrezensionen erscheinen und dazu wieder die gewohnt straffen Zusammenfassungen meiner Lektüre – diesmal für die Monate April und Mai 2025 im Doppelpack. Viel Spaß und gebt mir gerne Rückmeldung, ob das so passt.
Millay Hyatt – Nachtzugtage
Die Philiosophin Millay Hyatt, in Texas geboren und schon lange in Berlin lebend, hat eine große Leidenschaft fürs Zugfahren, besonders für die weiten Strecken und dann gern mit dem Nachtzug. Für sie ist das die ulitmative Form von Weltbegegnung, mit Menschen und unbekannten Orten. 13 Texte, die zwischen Reiseerzählung und Essay changieren. Zart skizzierte Karten der Reiseverläufe sind in der schönen Ausgabe der Friedenauer Presse beigefügt und viele berühmte Zugreisende werden mit Zitaten berücksichtigt.
Jörg Hartmann – Der Lärm des Lebens
Der Schauspieler Jörg Hartmann erzählt von Kindheitserlebnissen, von seiner Herkunft aus dem kleinen Ruhrpottort Herdecke, seiner Familie und natürlich seiner Laufbahn als Schauspieler, die im Theater Meiningen begann und ihn schließlich an die Berliner Schaubühne und die Fernsehkameras führte, sehr lustig und selbstironisch, aber auch nachdenklich und berührend. Viel Raum erhält Hartmanns Herkunft aus dem Ruhrpott, aus sogenannten „kleinen Verhältnissen“. Hier schwingt soviel Liebe mit, hier ist selbst beim Lesen die typische Intonation vernehmbar – noch besser, man lässt es sich von Autor als Hörbuch vorlesen.
Vigdis Hjorth – Wiederholung
Eine Wiederholung in mehrfacher Hinsicht. Die Autorin wiederholt ein Thema, über das sie bereits in ihren vorherigen Romanen schrieb und das sie in immer wieder anderen Vatiationen autofiktional behandelt: ihre dysfunktionale Familie, der Bruch mit ihr, besonders mit der Mutter, die Missbrauchsvorwürfe an den Vater.
Der Titel Wiederholung bezieht sich aber auch direkt auf das Werk des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard aus dem 19. Jahrhundert. Eines seiner berühmtesten Zitate ist: „Das Leben muss vorwärts gelebt werden, kann aber nur rückwärts verstanden werden.“ Und so bemüht sich auch die Erzählerin in Wiederholung, ihr Heranwachsen besser zu verstehen, so intensiv wie überraschend nüchtern-analytisch.
Penelope Livly – Nachtglimmen
1987 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet und nun mit einem begeisterten Vorwort von Elif Shafak neu bei Dörlemann erschienen. Claudia Hampton, Mitte 70 und an Krebs erkrankt, erinnert sich in ihrem Krankenzimmer an ihre Kindheit, an das enge, aber nicht ganz unproblematische Verhältnis zu ihrem Bruder Gordon, an ihre Zeit als Kriegsreporterin in Ägypten, die Liebe zu Tom, einem britischen Panzeroffizier, den sie 1942 dort kennenlernt, ihre spätere Beziehung zu dem flatterhaften Jasper, die gemeinsame Tochter Lisa, die sie nie wirklich lieben konnte. Hier wird ein Leben vom Ende her erzählt, aber nicht fein chronologisch und konventionell, sondern zersplittert wie in einem Kaleidoskop. Claudia ist ein durchaus schwieriger Charakter, sie zu mögen fällt schwer. Wenn man sich am Ende von ihr verabschieden muss, fällt das aber dennoch schwer. Etwas viel besseres kann man über ein Buch kaum sagen. Für mich ein Jahreshighlight.
Katharina Hagena – Flusslinien
Zwei Frauen, die eine alt, die andere sehr jung und ein junger Mann stehen in Flusslinien im Mittelpunkt. Das eigentliche Zentrum aber ist die Elbe. Und in den zwölf Abschnitten, die zwölf Tagen entsprechen, werden sehr viele Geschichten erzählt.
Margrit Raven ist 102 Jahre alt und lebt in einer Seniorenresidenz am Fluss. Fast täglich lässt sie sich von Arthur, dem Fahrer der Einrichtung, zum römischen Garten bringen. Dieser ursprünglich zwischen 1880 und 1890 an einem Elbhang in Blankenese angelegte Garten erinnert sie an ihre Mutter Johanne, die mit der verantwortlichen Gärtnerin Else Hoffa, die 1938 als Halbjüdin nach England emigrieren musste, eine Zeitlang zusammengelebt hat.
Im Mittelpunkt steht aber die enge Beziehung von Margrit zu ihrer 18-jährigen Enkelin Luzie, die nach einer Vergewaltigung um ihre Identität ringt. Neben den historischen Elementen, den Themen Altern, dysfunktionale Familie, sexueller Gewalt gegen Frauen und dem Umgang der Gesellschaft damit, wird auch Suizid und Depression angesprochen, Altersdemenz und Liebe im Alter, der Ukrainekrieg und die Corona-Pandemie.
Viele Themen, viele Geschichten, viele Anspielungen. Da bleibt vieles davon doch sehr an der Oberfläche. Auch wenn der Roman durchaus komplex und kunstfertig gestaltet ist, der Ton wieder so verführerisch ist wie beim Debüt von Katharina Hagena, konnte mich Flusslinien deshalb nicht vollends überzeugen. Ein Text, der sich schön liest, aber wohl wenig tiefere, bleibende „Linien“ hinterlassen wird.
Kristine Bilkau – Halbinsel
Kristine Bilkau hat mit ihrem Roman wunderbar zarten Roman Halbinsel den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 gewonnen. Es geht darin um eine Mutter-Tochter-Beziehung, um Mutter- oder Elternschaft allgemein, um Freiheit und Fürsorge, ums Loslassen und um Solidarität, darum, was wir Älteren den Jungen hinterlassen, und dabei nicht nur um den Klimawandel – um den allerdings auch -, sondern auch um die elterliche Erwartung, die gebotenen Chancen zu nutzen, glücklich zu werden, etwas aus dem Leben zu machen.
Wunderbare Beschreibungen des Wattenmeers – so fragil wie Beziehungen – und treffende Parallelen zu Wanderungen dort. Ich mochte alles an dem Buch.
COLUM MCCANN – TWIST
Anders als die meisten Menschen glauben, erfolgt die digitale Informationsübertragung kaum über Satelliten, sondern zu 95% durch tief im Ozean ruhende Glasfaserkabel. Und die sind knick- und bruchanfällig und damit ein leichtes Opfer für verschiedenste Naturkatastrophen, Unfälle, Sabotage und Anschläge. Um Beschädigungen an den Kabeln möglichst schnell beheben zu können, liegen weltweit Reparaturboote, ähnlich einer Feuerwehr, auf Abruf bereit. Der Journalist Anthony Fennell ist im Auftrag eines Online-Magazins nach einem unterseeischen Erdrutsch vor der Küste Kongos an Bord eines solchen Schiffs. An Bord gibt es Spannungen und eines Tages verschwindet der Missionschef Conway vom Schiff und niemand weiß wohin.
Das Zerbrechen von (auch menschlichen) Verbindungen, Einsamkeit, Vereinzelung sind Themen, die den Autor interessieren und die er neben den interessanten technischen Fakten und der Schilderung des Alltags an Bord sehr atmosphärisch in seinen Text einwebt.
Volker Weidermann – Mann vom Meer
Auch das zweite Buch, das ich mir nach Deutsche Hörer! anlässlich des Thomas-Mann-Jahres vorgenommen habe, zeichnete ein vom Üblichen abweichendes Bild des Schriftstellers und hat mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch sehr interessante Einblicke geliefert.
Aufgewachsen in Lübeck, verbrachte er unzählige Sommertage und -wochen im nahen Travemünde und bezeichnete die Zeit dort oft als seine glücklichste.
Volker Weidermann beleuchtet nun in seiner süffig erzählenden und unterhaltsamen Art dieses ganz besondere Verhältnis von Thomas Mann zum Meer. Einfühlsam und respektvoll betont er dabei, dass es dabei nicht nur um lichte, sonnige Momente ging, sondern dass die See für Mann immer auch das Dunkle, Bedrohliche, Leidenschaftliche und Wilde verkörperte.
Ein wirklich sehr empfehlenswertes Buch, das mir Thomas Mann und sein Werk auf unterhaltsame und literarisch ansprechende Weise nochmal näher gebracht hat.
Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies
Einen ähnlichen Ansatz für eine erzählende Biografie wie Volker Weidermann verfolgt auch der Literturwissenschaftler Martin Mittelmeier und wählt dafür die Exiljahre Thomas Manns in den USA zwischen 1938 und 1952, zunächst in Princeton und schließlich in Los Angeleswo bereits Bertholt Brecht, Lion Feuchtwanger, Arnold Schönberg, Theodor W. Adorno, Franz Werfel, Berthold Viertel, Aldous Huxley – das ganze Who-is-who der europäischen Exilgemeinde lebte.
In Abendgesellschaften und Debatten tauschte man sich über die Lage in der alten Heimat aus. Leider inspiriert das Michael Mittermeier immer wieder in ein exzessives Namedropping. Er bewegt sich dann oft zu weit fort von Thomas Mann, und auch die Leserin kommt ihm damit leider nicht wirklich nahe, lernt vor allem den Menschen Mann, der trotz seiner Privilegien hier nie wirklich heimisch wurde, kaum besser kennen. Wozu auch die oft spöttisch-distanzierte Art, die meist die typischen Mann-Stereotypen (kühl, spröde, abweisend, arrogant, verklemmt) bedient, beiträgt. Ich fand es über weite Strecken einfach langweilig.
Thomas Mann – Deutsche Hörer!
59 Reden Thomas Manns aus dem kalifornischen Exil, die von 1942 bis Kriegsende mit enormem Aufwand – Mann sprach sie in Los Angeles auf Schallplatte, die anschließend mit dem Flugzeug nach New York gebracht wurde, von dort per Telefon nach London an die BBC übermittelt und von dieser auf von den Volksempfängern empfangbare Wellen ausgestrahlt – an ein deutsches Publikum gesendet wurden. Mein durchaus ambivalentes Bild von Thomas Mann wurde dadurch ziemlich durchgerüttelt, auch durch die hervorragenden Vor- und Nachworte von Mely Kiyak. Mann als glühender Antifaschist, entschiedener Demokrat und Europäer und dazu als scharfer Polemiker.
JOZSEF DEBRECZENI – KALTES KREMATORIUM. BERICHT AUS EINEM LAND NAMENS AUSCHWITZ
Einiges über die Machtstrukturen und internen Hierarchien, viel über den Lageralltag auch in den vielen Außenlagern, in denen Vernichtung durch Arbeit das Motto war, vermittelt der Ungar József Debreczeni in seinem Bericht Kaltes Krematorium. So wurde das „Sterbelager“ Dörnhau genannt, das er knapp überlebte. Es war ein Außenlager von Groß-Rosen, denn auch wenn Auschwitz für viele der Inbegriff der Shoah war, war es nur ein Ort in einem „Land namens Auschwitz“, zu dem die Deutschen große Teile Osteuropas gemacht haben.
Der Text wurde im Original bereits 1950 veröffentlicht. Außerhalb von Ungarn wollte ihn keiner lesen, erst jetzt wurde er in verschiedene Sprachen übersetzt.Ein wichtiger und sehr eindrücklicher Text.
Michèle Yves Pauty – Familienkörper
Die Autorin und Fotografin Michèle Yves Pauty beweist in ihrem Debütroman, dass man Familiengeschichte auch ganz anders als gewohnt schreiben kann. In ihrem Text fasst sie die Familie als zusammenhängender Körper. Die Mitglieder sind ineinander verwoben, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur durch ihre Beziehungen zueinander, sondern auch durch das, was in den Familien vererbt wird. Auch Krankheiten bzw. Veranlagungen dazu. Gerade auch um letztere und medical gaslighting geht es der Autorin in ihrer Geschichte über drei Frauengenerationen.
Die Ich-Erzählerin wächst in den 1980er Jahren mit ihrer Schwester in Innsbruck in Tirol auf. Das Familiengefüge ist durch die Generationen hindurch nicht unproblematisch. Enttäuschungen, Entbehrungen prägen sich in den „Familienkörper“ ein. Unglückliche Ehen, lieblose, überforderte Mütter, versagende Väter.
Michèle Yves Pauty erzählt in Fragmenten, zersplittert ihre Erzählung in kaleidoskopartigen, unchronologisch erzählten Episoden und verwebt zeitgeschichtliche Informationen. Ganz langsam setzt sich daraus ein Bild von Familie und der sie umgebenden Welt zusammen.
LIZ MOORE – DER GOTT DES WALDES
1975 verschwindet Barbara, die 13-jährige Tochter der reichen Van Laars, aus dem Sommercamp, das seit Jahrzehnten auf dem ihrer Familie gehörenden Naturreservat in den Adirondeck Montains stattfindet. Bereits 14 Jahre vorher verschwand ihr damals fünfjähriger Bruder Bear hier in den Wäldern und wurde nie gefuden. Eine fieberhafte Suche beginnt, aber alle Beteiligten scheinen etwas zu verschweigen, die Famlie verhält sich merkwürdig. Und was hat der unlängst aus der Haft geflohene „Schlitzer“, der sich Gerüchten nach in der Nähe aufhält, mit der Sache zu tun?
Mit der jungen Ermittlerin Judyta, schaltet sich auch die Polizei ein. In ständig wechselnden Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen von 1950 bis 1975 beobachten wir das Geschehen, alle Protagonist:innen haben ein etwas anderes Wissen, das erst langsam enthüllt wird. Mit vielen gelungenen Cliffhangern hält Liz Moore die Leser:innen von Der Gott des Waldes über die nicht unbedeutende Lesestrecke bei der Stange. Es geht ihr dabei nicht nur um die Vermisstenfälle, sondern auch um ungute Familiendynamiken, Lieblosigkeit, Misogynie, soziale Ungleichheiten und Coming of age.
Hannes Köhler – Zehn Bilder einer Liebe
Einen zeitgemäßen, authentischen Liebesroman, ohne aufgeblasene Gefühle, langweiliges Gefühlswirrwarr oder Überproblematisierungen und ohne Kitsch, Klischees und misslungene Sexszenen – gibt es das überhaupt? Hannes Köhler hat mit Zehn Bilder einer Liebe tatsächlich einen geschaffen. Zehn Bilder, zehn Szenen und Momentaufnahmen der Liebe von Luisa und David zwischen Familienalltag und unerfülltem Kinderwunsch.
Einfühlsam und ungeschönt beschreibt Hannes Köhler, wie Luisa und David zueinander finden, zusammenwachsen, ihre Autonomie verteidigen. Ihm gelingen glaubhafte Szenen eines Lebens als Familie, der Herausforderungen, die der Alltag an eine Beziehung stellt, und der Kraft, die es braucht, um diese zu bewahren.
Alan Murrin – Coast Road
Coast Road spielt 1994/95 in einer kleinen Küstenstadt im Norden Irlands und hat vor allem drei Frauenfiguren im Fokus. Mit sehr viel Einfühlungsvermögen erzählt Murrin von Colette, die ihre Familie – Mann und drei Söhne – verlassen hat, um mit einem anderen Mann zu leben. Das scheiterte und Colette kehrt zurück. Dort zerreißen sich die Leute das Maul und besonders für die Männer ist das Urteil über Colette klar. Im katholischen Irland sind Ehescheidungen erst seit 1996 möglich; für Frauen ohne Vermögen war es vorher extrem schwer, sich zu trennen, auch in Hinblick auf ein Sorgerecht für Kinder. In Izzy gewinnt Colette eine Freundin, aber auch sie kann deren Abrutschen in Alkoholkonsum und eine ungute Affäre nicht verhindern. Das Buch endet dramatisch, aber nicht hoffnungslos. Empfehlung!
Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter
Bei Recherchearbeiten zu der Familiengeschichte seiner Frau stieß Simon Stranger auf eine ganz unglaubliche Geschichte und ein bewegendes Schicksal: Die beiden norwegischen Fluchthelfer, die die Großmutter seiner Frau und ihre Familie 1942 sicher über die Grenze nach Schweden brachten, töteten kurz davor ein ebenfalls jüdisches Ehepaar, das sie begleiten sollten, und versenkten ihre Leichen in einem See. Die Täter wurden identifiziert, verhaftet und angeklagt, aber nach dem Krieg freigesprochen. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen? Und wie dazu, dass aus Mitgliedern des norwegischen Widerstandes, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens viele Menschen retteten, brutale Mörder eines älteren Ehepaars werden konnten? Eine wahre Geschichte, so spannend wie ein Krimi, die formal, inhaltlich und stilistisch überzeugt. Museum der Mörder und Lebensretter ist mit einer Vielzahl von Schwarz-Weiß-Fotos versehen und erhält von mir eine klare Leseempfehlung.
Charline Effah – Die Frauen von Bidi-Bidi
Das Camp Bidi Bidi in der Provinz Yumbe im Nordwesten Ugandas gilt als die zweitgrößte Siedlung für Geflüchtete weltweit. Die Krankenschwester Joséphine ist vor vielen Jahren vor ihrem gewalttätigen Ehemann aus dem Exil in Paris zurück nach Afrika geflohen, um dort zu arbeiten. Erst nach dem Tod ihres Vaters findet ihre Tochter Minga die sehnsüchtig erwarteten Briefe ihrer Mutter, die sie nie erhalten hat. Deren Spur hat sich nach vierzig Jahren verloren. Minga bricht nach Bidi Bidi auf, um sie wieder aufzunehmen. Es sind die Frauen, die sie in Bidi Bidi trifft, die Charline Effah so plastisch und ambivalent beschreibt, dass man sie als Leser:in nicht vergisst. Frauen, die Opfer von Krieg, Vertreibung, Flucht, Patriarchat und männlicher Gewalt wurden und immer wieder werden. Ein hartes Buch, ein trauriges Buch, ein wichtiges Buch. Und eines über Solidarität, trotz allem.
Dirk Kurbjuweit – Nachbeben
Nachbeben erschien zum ersten Mal 2004 und war das diesjährige Buch zu Frankfurt liest ein Buch. Der etwas verschrobene Seismologe Luis betreut neben seiner Lehrtätigkeit an der Goethe-Universität in Frankfurt auf dem Kleinen Feldberg im Vordertaunus die dortige Erdbebenwarte. Im Nachbarhaus lebt seit Langem die Hausmeisterfamilie Kühnholz. 200 Tage Nebel im Jahr, keine Wasserleitungen, im Winter teils tagelang eingeschneit – das Leben in der kleinen Gemeinde auf dem Feldberg war offensichtlich kein Zuckerschlecken.
In der Erzählgegenwart ist Luis bereits über 80, der Hausmeistersohn Lorenz, zu dem er eine enge Bildung hatte, lebt schon lange im teuren Kronberg und ist völlig überschuldet. Die Ehe mit Selma kriselt. Es geht um die Wiedervereinigung, die Währungsunion, die Einführung des Euros und natürlich um Erdbeben. Die Verwerfungen der Erde werden mit denjenigen in der Wirtschaft und in den Familien parallelgeführt. Unsympathische Figuren und eine dem Buch doch anzumerkende Alterung haben verhindert, dass mich das Buch wirklich überzeugen konnte. Schade, denn die Atmosphäre auf der Erbebenwarte und auch die Wechsel der Ich-Perspektive von Luis auf eine distanziertere personale Perspektive von Lorenz funktioniert gut. Insgesamt aber kein Buch, das man gelesen haben muss.
Patrick Modiano – Die Tänzerin
Wie alle Werke des Literaturnobelpreisträgers ist auch die Tänzerin sehr schmal, man mag es mit seinen knapp 93 Seiten kaum mehr Roman nennen. Und doch enthält es die ganze Modiano-Welt. Eine trüb beleuchtete Welt, die in die 1950er oder 1960er Jahre zurückführt, in Paris beheimatet und bevölkert mit „gewissen“, oft geheimnisvollen oder gar zwielichtigen Gestalten ist. Es ist die Jugend der jeweiligen Erzähler und die des Autors, in die die Texte rückblickend eintauchen. Der Erinnerungsstrom wird stets von einer Begegnung, einem Gegenstand, einem Brief ausgelöst. So auch in Die Tänzerin. Es sind wie immer bei Modiano flüchtige Identitäten, geisterhafte Schatten, die das Romanpersonal stellen. Die Erinnerungen liegen 60 Jahre zurück, sind diffus geworden, unzuverlässig. Die Vergangenheit verschwimmt, aber die Details stechen überdeutlich hervor. Auch Die Tänzerin ist ein Mosaiksteinchen im großen Lebensbuch von Modiano, das von seinen mittlerweile vierzig Büchern gebildet wird. Melancholisch, leicht, knapp und tänzerisch schwebend und uneindeutig.
Matthias Lohre – Teufels Bruder
1896 – die Brüder Thomas und Heinrich Mann stehen noch ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Thomas ist gerade volljährig geworden und lebt wie sein vier Jahre älterer Bruder von den eher dürftigen Zinserträgen des väterlichen Vermögens, das der Vater, Senator Thomas Johann Heinrich Mann, vor seinem Tod 1891 unter die Verwaltung eines Vormunds gestellt hat. Dieser steht den journalistischen und schriftstellerischen Ambitionen der Brüder skeptisch gegenüber. So ist für diese die Notwendigkeit, Geld zu verdienen stets Hindernis für die angestrebte literarische Karriere und das freie Autorenleben. 1896 ist auch das Jahr einer gemeinsamen Italienreise der Brüder, die ein Verhältnis in Hassliebe und Konkurrenz verbindet. Teufels Bruder ist sicher eine der gelungensten und lesenswertesten Neuerscheinungen im Thomas-Mann-Jubiläumsjahr.