Nora Krug – Im Krieg

K. Nora Krug – Im Krieg

Seit dem 24. Februar kursiert der Begriff „Zeitenwende“. Und ja, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist vieles nicht mehr so, wie es war. Ein Angriffskrieg in Europa schien trotz sich mehrender Anzeichen, trotz der immer autoritäreren Züge des russischen Regimes unter Putin, trotz erstarkendem Nationalismus vor allem in Osteuropa einfach nicht denkbar. Gab es nach den Grauen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs doch ein entschiedenes Nie wieder! Nie wieder Judenhass, nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg! Die Europäische Union, die Vereinten Nationen und der Weltsicherheitsrat – die Welt schien ihre Lehren aus dem Tod von geschätzt 60 Millionen Menschen gezogen zu haben. Sie wuchs zusammen. So dachte man zumindest im Westen oder wollte daran glauben, ungeachtet der unzähligen Konflikte weltweit. Weiterlesen „Nora Krug – Im Krieg“

Barbara Kingsolver – Demon Copperhead

Demon Copperhead? Da klingelt natürlich bei jedem Literaturliebhaber etwas. Und Barbara Kingsolver, die für ihren 860 Seiten starken Roman 2023 sowohl den Pulitzer Belletristik als auch den Women`s Prize for Fiction zugesprochen bekam, macht auch gar kein Geheimnis daraus, dass sie den berühmten David Copperfield von Charles Dickens als Folie für Demon Copperhead verwendet hat. Die sozial engagierte, realistisch erzählte Geschichte des Waisenjungen David aus dem Jahr 1850 und dem viktorianischen England in die 1990er und 2000er Jahre und in die abgehängte, als „Hillbilly-Provinz“ verachtete US-amerikanische Gebirgsregion der Appalachen zu transferieren, ist der 1955 geborenen und trotz zahlreicher Veröffentlichungen in Deutschland bisher nahezu unbekannten Kingsolver hervorragend gelungen.

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Elizabeth Strout – Am Meer

Es gibt Autor:innen, die mich mit ihren Büchern schon lange Zeit begleiten und die dadurch nicht nur zu Lieblingschriftsteller:innen, sondern auch zu einer Art literarischem Zuhause geworden sind. Richard Ford zählt gewiss dazu mit seinen Frank Bascombe-Romanen und auch Stewart O´Nan mit seiner Familie Maxwell. Und natürlich Elizabeth Strout, die nach meinem Dafürhalten immer noch ein wenig unterschätzt wird, zumindest hier in Deutschland. Sie ist weiblich, und dazu noch eine Weiße von der Ostküste fortgeschrittenen Alters (Jahrgang 1956). Außerdem pflegt sie einen lockeren, leicht zu lesenden Plauderton und erzählt überwiegend von Alltagsdingen. Aber Elizabeth Strout nimmt sich in all ihren Werken, und das ist in ihrem neuesten, Am Meer, nicht anders, die ganz großen Dinge zum Thema. Denn sie schreibt, um mal bei einem ihrer deutschen Titel zu bleiben, vom Leben natürlich. Weiterlesen „Elizabeth Strout – Am Meer“

Elizabeth Graver – Kantika

Der Titel Kantika – in Ladino, der Sprache der sephardischen Juden, das Lied bezeichnend – verrät schon einiges über den neuen Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Graver, deren Roman Der Sommer der Porters (mare, 2016) mich bereits sehr begeistern konnte. Die 1964 in Los Angeles geborene Autorin erzählt darin die nur leicht fiktionalisierte Geschichte ihrer eigenen Familie mütterlicherseits, und davon besonders ihrer 1902 geborenen Großmutter Rebecca Cohen Baruch Levy, die ihre Wurzeln im osmanischen Reich hat. Dorthin flohen Ende des 15. Jahrhundert in Folge der Reconquista viele von der iberischen Halbinsel vertriebene Juden und wurden sesshaft. Weiterlesen „Elizabeth Graver – Kantika“

Willa Cather – Lucy Gayheart

2024 ist ein Jahr der großen Jubiläen in der Literaturgeschichte. Franz Kafkas Todestag jährt sich zum 100. Mal, Vladimir Nabokov wäre im März 125, James Baldwin im August 100 Jahre alt geworden. Unlängst konnte man den 125. Geburtstag von Erich Kästner feiern, der genauso wie Immanuel Kant in diesem Jahr auch einen runden Todestag, den 50. hat (bei Kant handelt es sich um den 300. Geburts- und 220. Todestag). Dazu kommen noch große Jubiläen von Caspar David Friedrich (250. Geburtstag), Marco Polo (700. Todestag) und Anton Bruckner (200. Geburtstag). Bei so einer gesammelten Flut an anstehenden Feierlichkeiten ist im Dezember 2023 ein 150. Geburtstag mehr oder weniger untergegangen. Mit einer Neuausgabe des Spätwerks Lucy Gayheart hat der Manesse Verlag in seiner schönen, kleinformatigen Klassikerbibliothek der amerikanischen Schriftstellerin Willa Cather gedacht. Weiterlesen „Willa Cather – Lucy Gayheart“

Colson Whitehead – Die Regeln des Spiels

Der amerikanische Autor Colson Whitehead, dessen wunderbare frühere Bücher John Henry Days und Der letzte Sommer auf Long Island meiner Meinung nach bei uns viel zu wenig Beachtung fanden, hat sich spätestens mit seinen doppelt Pulitzer und National Book Award gekrönten Romanen Underground Railroad und Die Nickel Boys, die sich mit sehr harten Themen aus der Vergangenheit der USA beschäftigen, als einer der erfolgreichsten und bekanntesten afroamerikanischen Schriftsteller etabliert. Nach diesen düsteren Büchern staunte die Literaturkritik nicht schlecht, als Colson Whitehead 2021 mit Harlem Shuffle eine fast heitere, auf jeden Fall beschwingte Gaunerkomödie veröffentlichte, der er nun einen zweiten Teil (insgesamt ist eine Trilogie geplant) folgen lässt – Die Regeln des Spiels. Weiterlesen „Colson Whitehead – Die Regeln des Spiels“

Richard Ford – Valentinstag

Wenn ich nach meinem Lieblingsautor/meiner Lieblingsautorin gefragt werde, muss ich immer ausweichen. Die vielen Bücher, die ich übers Jahr verteilt und das schon einige Jahrzehnte lang lese, haben mich so viele wunderbare, begnadete, empathische Schriftsteller:innen kennenlernen lassen, dass ich diese Frage einfach nicht beantworten kann. Sollte der Fragesteller allerdings zu Werkzeugen der peinlichen Befragung greifen, dann könnte es durchaus sein, dass der Name Richard Ford fällt. Seitdem der 1944 geborene US-Amerikaner 1989 (Original 1986) mit Der Sportreporter seinen Helden Frank Bascombe in die literarische Welt entließ, begleitet dieser in relativ regelmäßigen, meist ca. zehnjährigen Abständen mein Leseleben. Höhepunkt war vielleicht bereits 1995 der zweite Roman, Unabhängigkeitstag, mit dem Ford sowohl den Pulitzer-Preis als auch den PEN/Faulkner Award gewann. 2006 folgte Die Lage des Landes, 2015 Frank. Mit letzterem, vier zu einem Roman zusammengefassten Novellen, schien die Bascombe-Reihe beendet. Wie wunderbar und großartig, dass Richard Ford nun mit Valentinstag doch noch einmal, wenn auch wohl zum wirklich letzten Mal, nachgelegt hat. Weiterlesen „Richard Ford – Valentinstag“

Susan Choi – Vertrauensübung

Selten hat mich ein Buch so zwiegespalten zurückgelassen wie der mit dem National Book Award ausgezeichnete und nun in der Übersetzung von Tanja Handels und Katharina Martl bei Kjona erschienene Roman von Susan Choi, Vertrauensübung. Einhellige Begeisterung herrscht bei mir allerdings über die Gestaltung des Buchs. Der sich vor allem für Nachhaltigkeit in der Buchproduktion engagierende Kjona Verlag macht einige der schönsten Bücher, die derzeit im Handel sind. Trendige Veredelungen wie Lacke oder Farbschnitte werden aus Umweltschutzgründen nicht verwendet, dafür jubelt mein Bücherherz angesichts des klaren Designs, des hochwertigen, alterungsbeständigen Papiers und vor allem der Fadenheftung. Ganz große Begeisterung! Weiterlesen „Susan Choi – Vertrauensübung“

Julie Otsuka – Solange wir schwimmen

Als Julie Otsuka 2011 ihren zweiten Roman „Buddha in the attic“ (dt. Wovon wir träumten) veröffentlichte, war die Literaturwelt einhellig begeistert. Diese kollektive Wir-Perspektive, die das Schicksal sogenannter „Picture brides“ in den USA so zart, deutlich und ungeschönt schilderte, war etwas ganz Ungewohntes. Das Buch war für den National Book Award nominiert und erhielt den PEN/Faulkner-Award. Und war auch in Deutschland in der Übersetzung von Katja Scholtz ein großer Erfolg. Auch ich war hingerissen von diesem mir bisher nicht gekannten Erzählton. Über zehn Jahre musste das Lesepublikum warten, nun hat Julie Otsuka mit Solange wir schwimmen einen neuen, ihren dritten Roman vorgelegt. Und auch dieser startet wieder mit einer kollektiven „Wir“-Perspektive. Weiterlesen „Julie Otsuka – Solange wir schwimmen“

Tess Gunty – Der Kaninchenstall

Der Kaninchenstall heißt in der Umgangssprache ein etwas heruntergekommener Wohnblock in Vacca Vale, Indiana, einer ihrerseits auch recht heruntergekommenen (fiktiven) Stadt mitten im US-amerikanischen Rustbelt. Dort wo schon lange die Lichter ausgegangen sind. Seit der Deindustrialisierungswelle der 1980er und 90er Jahren, als die einstigen Industriehochburgen mit ihrer Stahlproduktion sowie der Automobil- und Waffenindustrie begannen, ihre Bedeutung für die amerikanische Wirtschaft zu verlieren, steht dieser Teil der USA für Niedergang und Hoffnungslosigkeit. „Lapinière Affordable Housing Complex“ ist der hochtrabende offizielle Name des Gebäudes, benannt nach den vielen Kaninchen, die die Gegend bevölkern. Aber die Protagonisten von Tess Gunty wissen sehr wohl, dass es eigentlich nur Der Kaninchenstall ist. Weiterlesen „Tess Gunty – Der Kaninchenstall“