Marko Dinić – Das Buch der Gesichter

Das Buch der Gesichter von Marko Dinic war unter den für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Romanen mit 464 Seiten der weitaus umfangreichste und sowohl inhaltlich als auch formal sicher auch einer der anspruchvollsten. In acht stilistisch unterschiedlichen Kapiteln aus verschiedenen, sich ergänzenden oder auch widersprechenden Perspektiven werden die Ereignisse an einem ganz bestimmten Tag erzählt.

Es ist ein Sommertag im Jahr 1942 in Belgrad oder genauer gesagt im bis nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängigen Vorörtchen Zemun. Kein x-beliebiger Sommertag, sondern der Tag, an dem Serbien vom SS-Standartenführer Emanuel Schäfer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Serbien, für „judenfrei“ erklärt wurde. Serbien war damit der erste Staat im damaligen Dritten Reich, der von sich behauptete, die „Endlösung der Judenfrage“ erreicht zu haben. Angesichts der neuerlichen Bestrebungen, Geschichtsrevisionismus zu betreiben, nicht nur, aber gerade auch in Serbien, und das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus zu schönen oder zu unterdrücken, ist Das Buch der Gesichter nicht nur ein historisch wichtiges, sondern sehr aktuelles Buch. Weiterlesen „Marko Dinić – Das Buch der Gesichter“

Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies – Kurz vorgestellt

Einen ähnlichen Ansatz für eine erzählende Biografie wie Volker Weidermann mit Mann vom Meer und von diversen anderen Autoren wie beispielsweise Florian Illies oder Uwe Wittstock verfolgt auch der Literturwissenschaftler Martin Mittelmeier mit seinem Buch zum Thomas Mann-Jubiläumsjahr Heimweh im Paradies: anhand von locker zusammengefügten Episoden aus derem Leben, literarisch erzählt, umfassend recherchiert und in kleinen intimen Einblicken leicht fiktionalisiert wird ein thematisch und/oder zeitlich begrenztes Bild einer Person (oder einer Zeit) präsentiert.

Weiterlesen „Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies – Kurz vorgestellt“

Penelope Lively – Nachtglimmen

Claudia Hampton war in ihren jungen Jahren Kriegsberichterstatterin in Ägypten, eine der ersten weiblichen, schrieb später populärwissenschaftliche Geschichtsbücher und ist nun Mitte Siebzig, leidet an Darmkrebs und liegt in einer englischen Klinik im Sterben. Eine „Geschichte der Welt“ mit ihr als Helden schwebt ihr durch den Kopf. Und wie so oft sind es Kindheitserinnerungen, mit denen Penelope Lively ihren 1987 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichneten Roman Nachtglimmern beginnt. Weiterlesen „Penelope Lively – Nachtglimmen“

Saskia Hennig von Lange – Heim

Welche Assoziationen löst der Titel des neuen Romans von Saskia Hennig von Lange – Heim – aus? Bei mir war es tatsächlich zunächst ausschließlich die der Geborgenheit, des Heimkommens, etwas Warmes. Aber natürlich kann ein Heim auch etwas Kaltes, Erschreckendes, Bedrohliches sein. Lange Zeit galt das beispielsweise für Kinderheime, Kindererholungsheime, Heime für Menschen mit geistigen Einschränkungen, auch Altenheime. Die Komplexität des Titels weist bereits auf die Vielschichtigkeit dieses sehr gelungenen Romans hin. Weiterlesen „Saskia Hennig von Lange – Heim“

Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum

Der 85-jährige und mittlerweile schwer kranke Hark Bohm ist vor allem als Regisseur und Filmproduzent (zum Beispiel von Nordsee ist Mordsee oder Yasemin) bekannt, trat aber auch als Schauspieler auf und verfasste zahlreiche Drehbücher. Die nun erschienene Kindheitserinnerung Amrum lag auch zunächst als Drehbuch vor (und wird aktuell von Fatih Akin mit Diane Kruger verfilmt; voraussichtlicher Filmstart September 2025), zusammen mit dem Autor Philipp Winkler hat Hark Bohm daraus nun auch einen Roman gemacht. Meine vorurteilsbeladenen Bedenken wegen Doppelautorenschaft (die hier wegen des angegriffenen Gesundheitszustand Bohms nötig wurde) und dem Gedankenimpuls „schon wieder ein Schauspieler/Regisseur etc. der einen Roman schreiben will“, wurden gleich zu Anfang zerstreut. Amrum ist ein wunderbar leises, etwas wehmütiges, warmes Buch über eine Kindheit auf Amrum, die sicher vieles gemeinsam hat mit derjenigen des Autors. Weiterlesen „Hark Bohm Philipp Winkler – Amrum“

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Wer war Magda Goebbels? Wer war diese Frau, die ihre Namen so oft wechselte wir ihre Identitäten, mal Magda Behrend, Friedländer, Ritschel, Quandt hieß und schließlich als Magda Goebbels so etwas wie die First Lady des Dritten Reichs darstellte. Die als uneheliche Tochter des Dienstmädchens Auguste Behrend mit gerade einmal neunzehn Jahren die Frau des reichen Industriellen Günther Quandt und Mutter seiner beiden Söhne wurde, der ältere von ihnen war gerade einmal sieben Jahre älter als seine Stiefmutter. Wie entwickelte sich aus der lebenslustigen, kulturell interessierten, ehrgeizigen, um Aufstieg bemühten jungen Frau, die ernsthaft darüber nachdachte, mit ihrer Jugendliebe Viktor Chaim Arlosoroff nach Palästina auszuwandern, einen jüdischen Stiefvater hatte und sich selbst als unpolitisch bezeichnete, die fanatische Hitleranhängerin, die kurz vor Kriegsende ihre sechs Kinder und dann sich selbst umbrachte? Nora Bossong geht dieser Frage in ihrem Roman Reichskanzlerplatz nach. Weiterlesen „Nora Bossong – Reichskanzlerplatz“

Uwe Wittstock – Marseille 1940

Nach Februar 33. Der Winter der Literatur beschäftigt sich Uwe Wittstock in seinem neuen erzählenden Sachbuch Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur mit einem weiteren Krisenjahr. Nachdem er in der typischen mosaikartigen Erzählweise die bedrohlichen Ereignisse unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme anhand verschiedener Autoren wie Joseph Roth, Alfred Döblin und Thomas Mann beleuchtet hat, verpackt er nun die tragischen Ereignisse nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 wieder in viele kleine Episoden, wieder ganz nah an den Personen, chronologisch fortschreitend, unglaublich dicht, detailliert und spannend. Quellen waren wieder vor allem Selbstzeugnisse von Schriftsteller:innen und anderen Kulturschaffenden, wie Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen und Erinnerungen. Weiterlesen „Uwe Wittstock – Marseille 1940“

Fuminori Nakamura – Die Flucht

Den japanischen Autor Fuminori Nakamura kenne ich von seinem 2015 erschienenen originellen Kriminalroman Der Dieb, der wie auch die nachfolgenden Romane im Feuilleton begeistert besprochen wurde. Entsprechend gespannt war ich auf seine neueste, von Louise Steggewentz ins Deutsche übertragene Veröffentlichung Die Flucht.

Weiterlesen „Fuminori Nakamura – Die Flucht“

Simone Kucher – Die lichten Sommer

Die Transgenerationale Weitergabe von Traumata, Erfahrungen, Verhaltensweisen ist ein weites und in der neueren Literatur eifrig beackertes Feld. Gerade die Erfahrungen von Frauen in und um den Zweiten Weltkrieg sind häufiges Thema. Dass man ihm immer noch neue Aspekte abgewinnen und herausragende Prosa daraus erschaffen kann, beweist die Theater- und Hörspielautorin Simone Kucher in ihrem Debütroman Die lichten Sommer. Weiterlesen „Simone Kucher – Die lichten Sommer“

Elisabeth Bronfen – Händler der Geheimnisse

Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen hat mit Händler der Geheimnisse ihren ersten Roman veröffentlicht. Darin geht es mit einigen autobiografischen Anklängen um die Theaterwissenschaftlerin Eva Bromfield, die nach dem überraschenden Tod ihres Vaters tief in die Familiengeschichte und besonders die Nachkriegszeit hineingezogen wird. Trotz einiger sprachlicher Schwächen liest sich das Buch bis zum Ende ungeheuer spannend. Weiterlesen „Elisabeth Bronfen – Händler der Geheimnisse“