Marko Dinić – Das Buch der Gesichter

Das Buch der Gesichter von Marko Dinic war unter den für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Romanen mit 464 Seiten der weitaus umfangreichste und sowohl inhaltlich als auch formal sicher auch einer der anspruchvollsten. In acht stilistisch unterschiedlichen Kapiteln aus verschiedenen, sich ergänzenden oder auch widersprechenden Perspektiven werden die Ereignisse an einem ganz bestimmten Tag erzählt.

Es ist ein Sommertag im Jahr 1942 in Belgrad oder genauer gesagt im bis nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängigen Vorörtchen Zemun. Kein x-beliebiger Sommertag, sondern der Tag, an dem Serbien vom SS-Standartenführer Emanuel Schäfer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Serbien, für „judenfrei“ erklärt wurde. Serbien war damit der erste Staat im damaligen Dritten Reich, der von sich behauptete, die „Endlösung der Judenfrage“ erreicht zu haben. Angesichts der neuerlichen Bestrebungen, Geschichtsrevisionismus zu betreiben, nicht nur, aber gerade auch in Serbien, und das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus zu schönen oder zu unterdrücken, ist Das Buch der Gesichter nicht nur ein historisch wichtiges, sondern sehr aktuelles Buch. Weiterlesen „Marko Dinić – Das Buch der Gesichter“

Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule

Wie schreibt man über eine Katastrophe, ein Unglück, ein schreckliches Ereignis, das unsägliches Leid hervorgerufen hat, ohne voyeuristisch zu sein, sich dieses Ereignisses nur zu bedienen? Und wer darf darüber schreiben? Nur Betroffene? Und wie betroffen muss man sein, um es zu dürfen, es zu können? Fragen, die sich der Autor Kaleb Erdmann in seinem zweiten Roman Die Ausweichschule stellt. Er, der selbst am 26. April 2002 als Schüler des Gutenberg Gymnasiums in Erfurt Zeuge des Anschlags eines Ex-Schülers war, der elf Lehrern, einer Referendarin, einer Sekretärin, zwei Schülern und einem Polizeibeamten das Leben nahm und die Stadtgesellschaft Erfurts und ganz Deutschland tief und nachhaltig erschütterte.

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Charlotte Gneuß – Gittersee – Kurz vorgestellt

Im Herbst 2023 war wohl keine Debatte in der Literaturwelt so heiß wie die um den Debütroman Gittersee von Charlotte Gneuß. Der Roman war für den Deutschen Buchpreis nominiert und hatte den Preis der Jürgen Ponto Stiftung genauso wie den Aspekte-Literaturpreis gewonnen. Das Lob der Literaturkritik war – teils mit kleinen Abstrichen – fast einhellig. Wäre da nicht die sogenannte „Mängelliste“ gewesen. Eigentlich – zumindest offiziell – nur für den verlagsinternen Gebrauch gedacht, erreichte sie die Öffentlichkeit und auch die Buchpreis-Jury. Und plötzlich wurde heftig diskutiert. Um Ungenauigkeiten, Fehler, vor allem aber darum, ob man das überhaupt darf, als junge, 1992 geborene, westdeutsch aufgewachsene Autorin über die DDR im Jahr 1976 zu schreiben. Eine eigentlich lächerliche Debatte, die aber hohe Wellen schlug. Und die gegenüber einem Debütroman besonders unangebracht war. Weiterlesen „Charlotte Gneuß – Gittersee – Kurz vorgestellt“

Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Hin und wieder kommt es vor – (leider) nicht sehr oft -, dass ich Bücher ohne größere Erwartungen beginne, und dass mich diese dann völlig vom Hocker hauen. Das ging mir gerade so mit dem Deutscher Buchpreis-Gewinnertitel von Martina Hefter Hey guten Morgen, wie geht es dir? Mich haben der Klappentext und die Buchwerbung zunächst nicht sonderlich angesprochen.

Love-Scammer – also Männer, hauptsächlich aus Entwicklungs- oder Schwellenländern, die online Beziehungen zu (meist älteren) Frauen anknüpfen und diese dann irgendwann finanziell gnadenlos ausbeuten? Eine mittelalte Frau, die ihrerseits diesen jungen Männern Lügen auftischt, während nebenan ihr schwerkranker Mann im Pflegebett liegt? Eine „Dreiecksgeschichte ganz neuer Art“, „eine Frau zwischen zwei Männern“? Tatsächlich betonen fast alle der (fast) ausnahmslos begeisterten Rezensionen eines dieser Themen: Lovescamming, pflegende Angehörige oder Insomnie. Weiterlesen „Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?“

Doris Wirth – Findet mich

„Ich dachte immer, dass ich aus der normalsten Familie der Welt komme.“ So beginnt die Schweizerin Doris Wirth ihren Debütroman Findet mich, der es 2024 spontan auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Wer nun aber eine Ich-Erzählung über eine mehr oder weniger dysfunktionale Familie erwartet, sieht sich zum ersten Mal getäuscht und wird im Verlauf des Romans noch so manches Mal nicht nur stilistisch überrascht. Weiterlesen „Doris Wirth – Findet mich“

Tomer Dotan-Dreyfus – Birobidschan

Birobidschan ist ein realer und ein utopischer Platz. Die weit in Fernost, fast an der Grenze zu China gelegene autonome russische Oblast ist tatsächlich weltweit der einzige Ort, der Jiddisch als (zweite) Amtssprache hat. In den 1930er Jahren wurden dort Juden aus der ganzen Sowjetunion angesiedelt. Was aber als ein großzügiger Akt Stalins verkauft wurde, diente vor allem zur Urbanmachung dieses höchst unwirtlichen, hauptsächlich aus Taiga und Sumpf bestehenden Gebietes. Und der Vertreibung von Juden aus den urbanen Zentren. Und nach 1948 zeigte sich das deutlich antisemitische Gesicht der damaligen Sowjetunion in den stalinistischen Judenverfolgungen. Da hatten bereits viele Juden Birobidschan bereits wieder verlassen. Und auch heute leben – trotz der Amtssprache – kaum noch welche dort. Der 1987 in Tel Aviv geborene und schon mehr als 10 Jahre in Berlin lebende Tomer Dotan-Dreyfus präsentiert in seinem für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman aber noch ein anderes, ein utopisches, ein jüdisch-sozialistisches Birobidschan, weit entfernt von der Realität. Weiterlesen „Tomer Dotan-Dreyfus – Birobidschan“

Sepp Mall – Ein Hund kam in die Küche

„Die große Option“ – so wurde vollmundig die 1939, nach dem „Anschluss“ Österreichs, von Adolf Hitler und Benito Mussolini getroffene Vereinbarung zu Südtirol genannt. Die Bevölkerung des nach Ende des Ersten Weltkriegs Italien zugeschlagenen ehemaligen österreichisch-ungarischen Gebiets südlich des Brennerpasses sollte „frei“ wählen können, ob sie sich der schon seit 1922 von den regierenden Faschisten betriebenen Italianisierung unterordnen wollen oder aber die „Heim ins Reich“-Option wählen und umgesiedelt werden. Von den etwa 250.000 „volksdeutschen“ Südtirolern, was 80 % der Bevölkerung ausmachte, wählte 85% die letztere Möglichkeit. Bis zur Besetzung Norditaliens durch die Deutschen im September 1943 wanderten 75.000 Südtiroler ins Deutsche Reich aus. So auch die Familie von der Sepp Mall in seinem für den deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman Ein Hund kam in die Küche erzählt. Weiterlesen „Sepp Mall – Ein Hund kam in die Küche“

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

2021 stand Sasha Marianna Salzmann mit ihrem grandiosen Generationenroman Im Menschen muss alles herrlich sein auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Heute ist er aktueller denn je, denn der erste Teil davon ist bei in der Ostukraine beheimateten Russen angesiedelt. Vor allem die Frauen stehen hier im Mittelpunkt. Weiterlesen „Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein“

Henning Ahrens – Mitgift

Mehr als zweihundert Jahre und sieben Generationen einer der eigenen sehr ähnlichen Familie nimmt Henning Ahrens in seinem Roman Mitgift in den Blick. Acht, zählt man den Ich-Erzähler, hinter dem sich nur sehr offensichtlich der Autor verbirgt, mit – aber der war ja noch nicht geboren, als das Buch 1962 endet.

Zweihundert Jahre Familiengeschichte vom niedersächsischen Land, aus Klein-Ilsede bei Peine, zweihundert Jahre landwirtschaftliche Tradition. Der Hof wird an den ältesten Sohn vererbt, das ist Gesetz, sozusagen die Mitgift. Dass außer diesen materiellen Dingen auch ganz anderes von Generation zu Generation weitergegeben werden, ist Thema dieses für die Longlist zum Deutschen Buchpreis nominierten Romans. Weiterlesen „Henning Ahrens – Mitgift“

Gert Loschütz – Besichtigung eines Unglücks

Seit fünfzig Jahren schreibt Gert Loschütz Hörspiele, Theaterstücke, Erzählungen und immer wieder auch Romane. Mit zwei davon stand er auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis. Dunkle Gesellschaft. Roman in zehn Regennächten schaffte es 2005 auf die Shortlist, Ein schönes Paar 2018 immerhin auf die Longlist. Auch 2021 hat es Gert Loschütz mit Besichtigung eines Unglücks unter die zwanzig Titel geschafft, die ins Rennen um den „Roman des Jahres“ gingen. Weiterlesen „Gert Loschütz – Besichtigung eines Unglücks“