Henning Sußebach – Anna oder Was von einem Leben bleibt

Immer wieder musste ich bei der Lektüre von Anna: oder Was von einem Leben bleibt – Die Geschichte meiner Urgroßmutter von Henning Sußebach an den Roman Schwebende Lasten von Annett Gröschner denken. Vieles ist unterschiedlich – das eine autobiografische Recherche, eher ein Sachbuch, das andere ein Roman; Anna wurde 1867 in einem nordrhein-westfälischen Dorf bei Soest geboren, Gröschners Hanna Krause in Ostdeutschland kurz nach der Jahrhundertwende; die wurde Dorfschullehrerin im Sauerland, die andere Kranführerin in Magdeburg. Und doch ist etwas ganz Entscheidendes gleich: Es sind Geschichten von Frauen, die sowohl in ihrer Einzigartigkeit als auch in ihrer Normalität viel zu wenig Beachtung finden und oft übersehen werden. „Was bleibt von einem Leben?“ fragt daher auch der 1972 geborene Journalist Sußebach in seinem so aufschlussreichen wie berührendem Buch.

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Matthias Lohre – Teufels Bruder – Kurz vorgestellt

Matthias Lohre erzählt in Teufels Bruder vom Jahr 1896 – Die Brüder Thomas und Heinrich Mann stehen noch ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Thomas ist gerade volljährig geworden und lebt wie sein vier Jahre älterer Bruder von den eher dürftigen Zinserträgen des väterlichen Vermögens, das der Vater, Senator Thomas Johann Heinrich Mann, vor seinem Tod 1891 unter die Verwaltung eines Vormunds gestellt hat. Dieser steht den journalistischen und schriftstellerischen Ambitionen der Brüder skeptisch gegenüber. So ist für diese die Notwendigkeit, Geld zu verdienen stets Hindernis für die angestrebte literarische Karriere und das freie Autorenleben. Der zielstrebigere Heinrich hat bereits einige literarische Erfolge und ist kurzzeitig Herausgeber der nationalchauvinistischer Monatsschrift „Das zwanzigste Jahrhundert“, für die auch Thomas Beiträge schreibt. Eine Anstellung beim satirischen Magazin Simplicissimus reizt diesen hingegen wenig. Lieber möchte er seinen Italien-Aufenthalt mit Heinrich verlängern. Weiterlesen „Matthias Lohre – Teufels Bruder – Kurz vorgestellt“

J Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine

Ein altes lila Haus auf einer Klippe mit atemberaubender Sicht auf die Küste vor Maine. Lake Grove. Schon als Teenager, als sie es vom Hummerboot, auf dem sie gejobbt hatte, entdeckte, zog es Jane Flanagan magisch an, zum Lesen, Schule schwänzen, Träumen. Manchmal zusammen mit ihrer besten Freundin Allison, später mit Freund und späterem Ehemann David. Nun lässt J. Courtney Sullivan ihre Protagonistin in Die Frauen von Maine nach einer persönlichen Katastrophe in ihr Elternhaus in der kleinen Küstenstadt Awadapquit (fiktiv, erinnert aber angeblich sehr an Ogunquit) zurückkehren, um mit ihrer Schwester das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Mutter zu verkaufen. Und es zieht sie erneut zu dem ehemals verlassenen Haus. Weiterlesen „J Courtney Sullivan – Die Frauen von Maine“

Ulla Lenze – Das Wohlbefinden

Gut 50 Kilometer südwestlich von Berlin wurden in dem kleinen brandenburgischen Städtchen Beelitz ab 1898 von der Landesversicherungsanstalt auf über 140 ha Gelände großzügig dimensionierte Heilstätten erbaut. Ulla Lenze lässt ihren aktuellen Roman Das Wohlbefinden, der für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 nominiert war, genau hier spielen. Weiterlesen „Ulla Lenze – Das Wohlbefinden“

Stumme Zeit – Mit Silke von Bremen durch Keitum

Die Heimatforscherin und Sylt-Gästeführerin Silke von Bremen hat mit Stumme Zeit einen Deütroman geschrieben, der zurück in die 1970er Jahre führt, als der Massentourismus begann, die Insel zu erobern. In langen Rückblicken führt er aber auch in eine sehr dunkle, in die stumme Zeit des Nationalsozialismus. Hauptprotagonistin ist Helma, die seit ihrer Geburt 1936 in einem Dorf auf Sylt lebt. Die Lage nahe dem Wattenmeer und die Präsenz von vielen alten Kapitänshäusern lässt auf das Dorf Keitum schließen, einst Hauptstadt von Sylt und ein Stück lebendige Inselgeschichte aus der Zeit des 18. Jahrhundert, als der Walfang noch die Haupterwerbsquelle von Sylt war. Weiterlesen „Stumme Zeit – Mit Silke von Bremen durch Keitum“

Elizabeth Graver – Kantika

Der Titel Kantika – in Ladino, der Sprache der sephardischen Juden, das Lied bezeichnend – verrät schon einiges über den neuen Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Graver, deren Roman Der Sommer der Porters (mare, 2016) mich bereits sehr begeistern konnte. Die 1964 in Los Angeles geborene Autorin erzählt darin die nur leicht fiktionalisierte Geschichte ihrer eigenen Familie mütterlicherseits, und davon besonders ihrer 1902 geborenen Großmutter Rebecca Cohen Baruch Levy, die ihre Wurzeln im osmanischen Reich hat. Dorthin flohen Ende des 15. Jahrhundert in Folge der Reconquista viele von der iberischen Halbinsel vertriebene Juden und wurden sesshaft. Weiterlesen „Elizabeth Graver – Kantika“

Ali Smith – Gefährten

Die britische Autorin Ali Smith schreibt wundersame, schwebende und ungemein poetische Romane. Mit ihrem Jahreszeiten-Quartett Herbst, Winter, Frühjahr und Sommer hat sie dies mit der Schilderung ganz aktueller Vorgänge in ihrem Heimatland verbunden. „Companion-Piece“ ist nun ihr aktuellster Roman im Original betitelt. Mehrdeutig kann er damit ein „Begleitstück“ zu diesen vier Büchern sein. Im Deutschen musste sich die Übersetzerin Silvia Morawetz auf eine Bedeutung festlegen und wählte für den Text von Ali Smith den Titel Gefährten. Weiterlesen „Ali Smith – Gefährten“

Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang

Ein Reiseführer für Französisch-Indochina aus den 1920er Jahren mit einem passenden Sprachführer, der fast ausschließlich Redewendungen im Imperativ enthielt, war es nach eigenem Bekunden, der den französischen Autor Éric Vuillard zu seinem neuesten Buch, Ein ehrenhafter Abgang, inspirierte. Und wieder hat er aus Fakten und Fiktion ein für ihn so typisches Genre geschaffen, das irgendwo zwischen historischem Sachbuch und dokumentarischem Roman angesiedelt ist. Schon in seinem mit dem Prix Goncourt gekürten Buch Die Tagesordnung, in Der 14. Juli  und Der Krieg der Armen hat er diese Art der Komposition angewendet, die man vielleicht am besten als literarische Inszenierung historischer Ereignisse beschreiben kann. Dafür montiert er Fakten, die er präzise aus Dokumenten wie Briefen, Reden, Memoiren recherchiert hat, mit einer erfundenen Innen- und Gefühlswelt der beteiligten Personen. Bei aller Faktentreue entsteht daraus dann ein weniger sachliches als engagiertes Stück Literatur. Weiterlesen „Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang“

Sunjeev Sahota – Das Porzellanzimmer

Die Geschichte in Das Porzellanzimmer klingt unglaublich, ist aber wohl an die Familiengeschichte des 1981 geborenen britischen Autors Sunjeev Sahota angelehnt. Wie die Protagonistin Mehar wurde seine indische Urgroßmutter als kleines Mädchen dem Sohn einer anderen Familie versprochen und musste diesen mit 15 Jahren heiraten ohne ihn vorher auch nur gesehen, geschweige denn kennengelernt zu haben. Weiterlesen „Sunjeev Sahota – Das Porzellanzimmer“

Victoria Belim – Rote Sirenen

In Folge des furchtbaren Angriffskriegs auf die Ukraine erscheinen im Moment erfreulicherweise zahlreiche Bücher über das Land und/oder von ukrainischen Autor:innen. Eines davon ist das Memoir der 1978 dort geborenen Victoria Belim. Aufgewachsen in der Gegend von Poltawa, ca. 140 km südöstlich von Charkiw, ging Belim in Kiew zur Schule, besuchte ein Internat auf der Krim und verließ mit 14 Jahren zusammen mit ihrer Mutter die Ukraine Richtung USA. Bereits sechs Jahre zuvor hatten sich die Eltern getrennt, der Vater lebte auch in Amerika. Belim spricht 18 Sprachen und hat in Yale Politikwissenschaften studiert. Heute lebt sie in Belgien. Nachdem sie lange Zeit eher lose Bindungen zu ihrem Heimatland verspürt hat, waren die Ereignisse 2014 für sie der Impuls, sich wieder intensiver mit ihm auseinanderzusetzen. Wie sehr sich das Verhältnis von Victoria Belim zur Ukraine und zu ihrer dort lebenden Großmutter Valentina verändert hat, erzählt sie in Rote Sirenen. Weiterlesen „Victoria Belim – Rote Sirenen“